31-12-2021
Memorial-Verbot – Eine Analyse von Julia Portnowa

Von Julia Portnowa
Am 29. Dezember beschloss das Oberste Gericht Russlands auf Antrag der Moskauer Staatsanwaltschaft die Auflösung des Menschenrechtszentrums Memorial und dessen regionaler Abteilungen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft demonstriert Memorial „eine anhaltende Missachtung der russischen Verfassung und Gesetze und das Recht auf Zugang zu Informationen.“ Der ältesten russischen Geschichts- und Menschenrechtsorganisation wird vorgeworfen den Erhalt ausländischer Gelder zu verschleiern, sich in Veröffentlichungen nicht als „ausländischer Agent“ zu kennzeichnen und durch seine historische Aufarbeitung ein das das Bild von der UdSSR zu verzerren, so Staatsanwalt Alexej Schafjarow gegenüber Interfax.ru.
„Ein Ringen um die Deutungsmacht der Geschichte“
Memorial Mitbegründerin Irina Scherbakowa nennt die Gründe für die Liquidierung „absurd und lächerlich“. Für sie und ihre Kolleg*innen ist das Urteil eindeutig politisch motiviert. Die Auflösung von Memorial soll die historische Aufarbeitung des politischen Terrors in der Sowjetunion unterdrücken und ist ein Angriff auf das historische Bewusstsein der Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion.
Seit den 1980er Jahren unterstützt die aus einer Bürgerinitiative hervorgegangene Organisation, Angehörige und Forschende bei der Suche nach Informationen über die Opfer des Großen Terrors. Der Zugang zu diesen Dokumenten ist stark eingeschränkt, da viele Unterlagen noch immer vom FSB (Nachfolgeorganisation des NDKW) unter Verschluss gehalten werden. In 30 Jahren baute Memorial ein umfassendes und öffentlich zugängliches Archiv mit über 3,5 Millionen Biographien auf, dass unverzichtbar für jede Forschung zur Geschichte der Verbrechen des Stalinismus und der Geschichte der Russischen Revolution ist. Zudem initiierten sie in ganz Russland zahlreiche Gedenkveranstaltungen und Bildungsinitiativen, um die Opfer nachträglich zu rehabilitieren und diesen Teil der russländischen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber genau diese Arbeit ist aus Sicht der Autoritäten unerwünscht, da sie ein negatives Licht auf die Vergangenheit werfen könnte.
Das explizite Benennen von Opfern wie Tätern dieser historischen Epoche ist allein schon aus machtpolitischem Kalkül der putinschen Regierung störend, da es im Kontrast zum historischen Narrativ des „glorreichen Reiches“ steht, in das sich das heutige Russland einreihen will.
„Signal an die Opposition und Reaktion auf Sanktionen des Westens“
Der Umgang mit Memorial steht beispielhaft für den Umgang der russischen Staatsmacht mit Oppositionellen und unabhängigen Akteuren. Nicht erst seit den Solidaritätsprotesten für Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021 wurden die Repressionen gegen regierungskritische Personen und Organisation radikal ausgeweitet. Irina Scherbakowa sieht im Vorgehen gegen Memorial eine Warnung an die Opposition: „Ihr müsst alle Angst haben will die Autorität uns sagen. Wir sind durch nichts geschützt, die Macht kann mit uns machen, was sie will“.
Sie ist sich sicher, dass das weltweite Medienecho auf die Sanktion von vornherein eingeplant war und eine indirekte Antwort auf die Sanktionen des Westens ist. „Das Urteil geht an alle, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden sind oder überhaupt ihre Stimme erheben gegen etwas, was ihnen nicht passt.“ Diese Botschaft geht an unabhängige Akteure und ihre Unterstützer in Russland und dem Westen gleichermaßen. Die drohende Vernichtung von Memorial durch die Behörden ist ein schwerer Schlag gegen die Menschenrechte im heutigen Russland als auch gegen den offenen Diskurs über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, für die der Staat die Verantwortung trägt. Yan Rachinsky, Leiter von Memorial International versprach, diese Entscheidung vor russischen Gerichten und gegebenenfalls vor dem EGMR anzufechten. Er erinnerte daran, dass dem EGMR bereits die Beschwerde von Memorial gegen das russische Gesetz über ausländische Agenten vorliegt: „Wir werden einen Weg finden unsere Arbeit fortzusetzen. Das Andenken an Großväter und Urgroßväter ist nicht so leicht zu zerschlagen.“
In Russland gibt es keinen Platz mehr für unabhängige Akteure und Regimekritiker*innen. Ihre Rechte können nunmehr allein auf internationaler Ebene verteidigt werden, weshalb sie die Solidarität ihrer Kolleg*innen aus dem Ausland nötiger haben denn je.
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