„Mariupol blutet: Sitz der Ukraine-Deutschen zerstört“

Jan Diedrichsen schaut in einem Kommentar für "Der Nordschleswiger" auf die Geschehnisse in der Ukraine und vor allem auf die Situation in Mariupol.

Text zum Foto: Das deutsche Begegnungszentrum in Mariupol vor dem Krieg und heute Fotoquelle: "Wiedergeburt" - Mariupoler Gebietsgesellschaft der Deutschen

Erschienen als Kommentar beim „Der Nordschleswiger“

Von Jan Diedrichsen

Der Krieg in der Ukraine ist kein Krieg zwischen Bevölkerungsgruppen oder gar zwischen Minderheiten und Mehrheit. Er ist keine „Reaktion“ von unterdrückten Russen, die gegen eine minderheitenfeindliche ukrainische Regierung in Kyjiw aufbegehren und dabei vom Kreml „unterstützt“ werden. Nein, wir haben es mit einem russischen Angriffskrieg gegen einen souveränen Nachbarstaat zu tun. Das kann nicht oft genug wiederholt werden. Denn der Kreml bedient immer wieder das Narrativ, dass der unterdrückten russischen Minderheit in der Ukraine geholfen werden müsse. So argumentieren Putin und dessen Claqueure bereits seit 2014, seitdem die Krim und weite Teile des Ostens der Ukraine durch Russland okkupiert wurden.

Die Nationalitäten des Landes – die Ukraine ist ein Vielvölkerstaat – stehen geschlossen an der Seite der Verteidiger. Es gibt eigene Einheiten der Roma, der Ungarn, Griechen, die gegen die Angreifer kämpfen, und auch sonst stehen die Nationalitäten des Landes Seite an Seite. Putin hat sich komplett verkalkuliert. Statt die Ukraine ethnisch zu spalten, haben sich auch bislang kritische russischsprachige Ukrainer auf die Verteidigung der Heimat verlegt.

Der desaströse Krieg trifft auch die Nationalitäten und Minderheiten des Landes (der Begriff Minderheit wird von vielen Gruppen nicht akzeptiert: Im Selbstverständnis keine Minderheiten, sondern gleichberechtigte Nationalität des Staates). Auch die Deutschen in der Ukraine sind betroffen: Seit Beginn des russischen Angriffs ist Mariupol im Südosten des Landes hart umkämpft. Mittlerweile gleicht die Stadt einem Trümmerfeld. Wie von Deutschstämmigen vor Ort zu erfahren war, wurde kürzlich auch das regionale Begegnungszentrum der Ukraine-Deutschen in der strategisch wichtigen Hafenstadt am Asowschen Meer in mehreren Etappen beschossen und letztendlich zerstört. Zahlreiche Ukrainedeutsche sind aus der Küstenregion bereits geflohen – oft nach Deutschland.

Unbestätigten Schätzungen zufolge sind in der Schlacht um Mariupol bislang 25.000 Menschen getötet worden. Die russische Armee hat bis auf ein weit verzweigtes Stahlwerk, das inmitten der Stadt liegt, das Gebiet unter ihre Kontrolle bringen können. Mehrere Ehefrauen der letzten ukrainischen Kämpfer berichten von katastrophalen Zuständen im Stahlwerk Azowstal. Pro Person gebe es nur noch ein Glas Wasser am Tag, sagte eine der Frauen in einem Interview, aus dem ukrainische Medien am Sonntag zitierten. Die Evakuierung aller verschanzten Kämpfer wird seit Tagen gefordert; zuerst der Schwerverletzten unter ihnen. Deren Situation sei schrecklich: Manchen fehlen Arme oder Beine, es gebe kaum noch Medikamente oder Betäubungsmittel. (Nachtrag: Nach Erscheinen des Artikels wurde mit der Evakuierung des Stahlwerkes begonnen)

Die verbliebenen Bewohner der Stadt überlegen, die Ruinen zu verlassen, viele weigern sich, unter dem Regime der russischen Besatzer zu leben. Viele Ukraine-Deutsche sind geflohen. Vor dem Krieg war das Zentrum der Ukraine-Deutschen in Mariupol mit deutschen Fördergeldern hergerichtet und renoviert worden. Ein idyllischer Ort für Kulturveranstaltungen und Sprachkurse. Es galt als Symbol der deutsch-ukrainischen Freundschaft. Davon ist jetzt nur noch das Denkmal im verwüsteten Vorgarten des Zentrums mit zwei ineinandergreifenden Händen übrig geblieben – eine Hand in Schwarz-Rot-Gold – und die andere in Blau-Gelb. Dem Haus der deutschen Minderheit fehlen das Dach, die Fenster und große Teile der Außenmauer. Die Fassadenreste sind alle verkohlt. Nach dem Einschlag von Granaten brannte das ganze Gebäude lichterloh. Jetzt steht die Ruine nur noch als Zeichen dafür, wie schnell eine jahrhundertealte Minderheit vernichtet werden kann.

Björn Akstinat, Leiter des Verbandes der deutschsprachigen Medien im Ausland (IMH-Internationale Medienhilfe): „Es kann gut sein, dass durch den Krieg die deutsche Minderheit der Ukraine weitgehend ausgelöscht wird, da nun viele Deutschstämmige gezwungenermaßen ins Ausland geflohen sind und voraussichtlich nur in kleiner Zahl zurückkehren werden. Dies wäre außerordentlich tragisch, weil die Deutschen seit Jahrhunderten in der Region siedeln und stark zu ihrer Fortentwicklung beigetragen haben. Noch vor rund 100 Jahren gab es im Gebiet der heutigen Ukraine weit über eine halbe Million deutschstämmiger Menschen, die in mehr als 2.000 deutschen Siedlungen lebten und vor allem evangelisch-lutherischen oder mennonitischen Gemeinden angehörten. Bis zum Kriegsausbruch erschienen in Kyjiw und auf der Krim deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften. Im Februar 2022 – also direkt vor dem Krieg – waren noch in mehr als 60 ukrainischen Städten und Dörfern deutsche Begegnungs- und Kulturzentren aktiv.“

Die Ukraine-Deutschen sind in der Region auch als Schwarzmeerdeutsche bekannt und Nachfahren der Bewohner ehemals deutscher Siedlungen am Nordufer des Schwarzen Meeres und des Asowschen Meeres der heutigen Ukraine. Westlich des Dnister leben Bessarabiendeutsche und im Süden Krimdeutsche, mit denen sie zu den Ukraine-Deutschen gehören.

Seit 1765 wanderten viele Deutsche aus West- und Südwestdeutschland, seit 1789 auch westpreußische Mennoniten in die nördliche Schwarzmeerregion ein. Es wurden viele Siedlungen im Süden des damaligen Russischen Kaiserreichs nahe der Hafenstadt Odessa, unter anderem in der Gegend um Mariupol gegründet. Wegen ihrer gemeinsamen Geschichte werden Schwarzmeerdeutsche meist zu der Gruppe der Russlanddeutschen gezählt. Aktuelle Schätzungen gehen von rund 35.000 verbleibenden Deutschstämmigen in der Ukraine aus. Sie leben in der ganzen Ukraine verteilt, viele von ihnen im Umkreis von Odessa, aber auch in der Nähe der Krim und in Donezk, im Osten des Landes. Also alle mitten im Kriegsgebiet.

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