16-12-2021
INTERVIEW „Committed scientist“: Thomas Benedikter kombiniert Forschung und Menschenrechtsengagement. Als VOICES-Experte schätzt er komplexe Fragen für uns ein
Thomas Benedikter
Von Wolfgang Mayr
In seinem neuen Buch „100 Jahre Territorialautonomie“ wirbt Thomas Benedikter für Demokratie und Autonomie als Lösung der Minderheitenfragen.
VOICES berichtet:
Eine Podcast-Reihe von Wolfgang Mayr mit Thomas Benedikter
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 2)
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 1)
Wie könnte sich die Autonomie von Südtirol weiterentwickeln, fragt Thomas Benedikter
Voices: Warum dein wissenschaftliches Interesse an den Themen Autonomie und Minderheitenschutz?
Thomas Benedikter: Wir leben in einer Welt von Nationalstaaten, viele davon noch geprägt vom Nationalismus der Titularnation, also jener Ethnie, die den jeweiligen Staat in jeder Hinsicht dominiert. Ethnisch-sprachlich-religiöse Minderheiten kommen in solchen Staaten zu kurz, erfahren immer noch Diskriminierung, Exklusion und Verfolgung. Zudem kennt die Mehrheit der Staaten weltweit keine Art der Dezentralisierung. Es gibt dort den Zentralstaat und im besten Fall eine gewählte Kommunalverwaltung. Keinen Föderalismus, keine Autonomie, keine Regionen. Das ist nicht nur für ethnische Minderheiten ein Problem, sondern für die Demokratie ganz allgemein. Ja, zu guter Letzt wird einem als Südtiroler Autonomie und Minderheitenschutz in die Wiege gelegt.
Voices: Du bist nicht nur wissenschaftlich engagiert, auch politisch. Schaffst Du die Trennung zwischen Wissenschaft und Politik?
Thomas Benedikter: Ich begreife mich als „committed scientist“, der seine Rolle als Forscher und Publizist vom direkten Eintreten für die Rechte von Minderheiten oder bedrohter Völker auf politischer Ebene zu trennen weiß. Es kommt darauf an, die verschiedenen Rollen und Spielfelder offen zu legen. Eine blutleere, sich neutral gebende Wissenschaft bleibt zu oft in ihrem aseptischen Elfenbeinturm. Gute politische Analyse muss nicht Neutralität vorgeben, sondern belegbare Fakten und treffende Argumente liefern.
Voices: Bist Du als Sohn des Autonomie-Verhandlers und langjährigen Landeshauptmann-Vize in Südtirol thematisch vorbelastet?
Thomas Benedikter: In der Tat, der Apfel fällt manchmal nicht weit vom Stamm. Es kommt aber darauf an, ausgehend von wichtigen Anliegen und Werten selbstständig und in jeder Hinsicht kritisch zu denken, natürlich auch gegenüber den Vorfahren.
Voices: In zwei Büchern setzt Du Dich mit der Autonomie auseinander, weltweit. Überraschenderweise gibt es nur wenige Autonomielösungen. Hat die Autonomie ein so schlechtes Image, weil ein erster Schritt zur Sezession?
Thomas Benedikter: In den Augen von Zentralstaatsverfechtern und Nationalisten aller Couleurs hat moderne Territorialautonomie genauso wie Föderalismus ein schlechtes Image. Beides würde ja in einem gewissen Ausmaß Machtteilung und die Aufgabe der kompletten politischen Kontrolle bestimmter Landesteile bedeuten. Dass Autonomie dem ersten Schritt zur Sezession gleichkommt, ist jedoch ein Irrtum. Nur wenige früher autonome Gemeinwesen sind diesen Weg gegangen, vor allem weil die Zentralstaaten die bestehende Autonomie in eine Sackgasse gelenkt, wenn nicht gar abgeschafft haben. Im Übrigen kann Sezession per Verfassung auch für jedes autonome Territorium ausgeschlossen werden.
Voices: Gibt es eine weltbeste Autonomie, die als Modell gelten kann?
Thomas Benedikter: Nein, doch sind Territorialautonomien nachweislich verschieden stark ausgeprägt. Ein Ranking fällt schwer und ist auf wissenschaftlicher Ebene kaum versucht worden. Dafür müssten präzise Kriterien entwickelt und sehr belastbare Daten über alle autonomen Regionen der Welt erhoben werden. Zwischen der Autonomie der skandinavischen Inseln, Schottlands und Kataloniens einerseits und jener der Vojvodina, von Karbi Anglong oder Adschariens andererseits liegen Welten.
Voices: Wie steht Südtirol da?
Thomas Benedikter: Südtirol mit seiner ausbaufähigen Autonomie kann bestenfalls im oberen Mittelfeld der bestehenden Territorialautonomie gereiht werden. Schließlich liegt derzeit im Parlament in Rom ein Gesetzentwurf der SVP auf, der die Mehrheit aller Artikel des geltenden Statuts abändern würde.
Voices: Du wirbst dafür, dass die betroffene Bevölkerung beim Thema Autonomie angehört werden muss. Die Südtiroler Volkspartei (SVP) setzt auf Autonomie-Kommissionen, die doch sehr erfolgreich arbeitet. Was spricht dagegen?
Thomas Benedikter: Die SVP setzt nicht wirklich auf Expertenkommissionen, denn sie hat nicht nur das Ergebnis des partizipativen Autonomiekonvents politisch nicht verwertet, sondern auch das Gutachten einer von ihr selbst eingesetzten Juristenkommission. Die SVP fährt lieber auf Sicht. Die 6er-Kommission begreift sich nicht als geeignete Instanz für eine grundlegende Reform des Statuts von 1972. Während in anderen autonomen Regionen die bilaterale Staat-Autonome Region-Kommission auch mit umfassenden Reformwerken betraut worden ist (Grönland, Åland, Ostbelgien, Katalonien), werden den paritätischen Kommissionen im Fall Südtirols und des Trentino andere Aufgaben zugeschrieben. Ein nur von der Mehrheit des Landtags und der Regierung nominiertes Gremium mit dieser Aufgabe zu betrauen, wäre zudem undemokratisch.
Voices: Vor einigen Jahren richtete der Landtag einen Konvent für eine große Autonomiereform ein. Wäre das der richtige Weg, die sogenannte Zivilgesellschaft in ein Reformprojekt einzuspannen?
Thomas Benedikter: Grundsätzlich wäre ein Konvent mit starkem Einbezug der Zivilbevölkerung der richtige Weg, diese notwendige Reform auf den Weg zu bringen. Der erste Versuch ist aus mehreren Gründen im Sand verlaufen: es fehlte an demokratischer Legitimation (nur nominierte Mitglieder im Konvent der 33, überwiegend regierungsnahe), an verfassungsrechtlich abgesichertem Verfahren (in Rom schert sich niemand darum, wie partizipativ ein solcher Reformvorschlag gestaltet wird) und schließlich auch am Druck von unten seitens der Bürger. Nur ein direkt gewählter Konvent mit einem klaren Mandat und einer klaren Perspektive für die Behandlung seiner Ergebnisse im Parlament kann das richten.
Voices: Du warst einer der Mitbegründer der Südtiroler GfbV. Du warst sehr für Kurdistan aktiv. Dein Engagement machte dich in der Türkei zu einer persona non grata. Du würdest in der Türkei also verhaftet werden?
Thomas Benedikter: Die Kurden und alle Teile Kurdistans liegen mir nach wie vor am Herzen. Als Tourist könnte ich vermutlich einreisen, weil jene absurde Anklage inzwischen ad acta gelegt worden ist. Doch würde ich nur hinfahren, um die Kurden der Türkei in ihrem Bestreben nach Demokratie, Autonomie und Grundrechten auch öffentlich zu unterstützen. Dann würde ich wie Dutzende von ausländischen Aktivisten ganz zu schweigen von den hunderten eingekerkerten kurdischen Journalisten bald in einem der vielen Knäste Erdogans landen.
Voices: Vor einigen Monaten ist dein Buch zu 100 Jahre Territorialautonomie erschienen. An was arbeitest jetzt?
Thomas Benedikter: Ich arbeite weiterhin in der politischen Bildung, Forschung und Publizistik. Als nächste Publikation steht die italienische Version von „100 Jahre moderne Territorialautonomie“ auf dem Programm. Mein neues Tätigkeitsfeld ist der Klimaschutz, ökologische Ökonomie und eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft, ohne dabei Minderheitenrechte und Autonomie aus den Augen zu verlieren.
Voices: Weltweit breitet sich der Populismus aus, auch das Modell der illiberalen Demokratien. Welche Perspektiven gibt es in dieser Entwicklung für regionale Autonomien?
Thomas Benedikter: Laut freedomhouse.org stagniert tatsächlich die Ausbreitung von Demokratie auf Weltebene seit einigen Jahren. Illiberale Demokratien wie Ungarn und Fassadendemokratien wie die Türkei und Russland werden dort in der Kategorie „halbfrei“ geführt. Für ein EU-Mitglied ist auch das schon eine Blamage, was den Orbán wenig kümmert. Das Phänomen solcher quasi- autoritärer Systeme mit stark nationalistischer Grundierung kann man andererseits nicht unbedingt als „populistisch“ einstufen. Man muss genau analysieren, warum und wie sie stabile Mehrheiten herzustellen vermögen. Auch in der Politikwissenschaft wird Populismus zu wenig genau definiert, um eine taugliche Einordnung von politischen Kräften, Parteien und Regimes zu erlauben. Populismus ist zum Allerweltsbegriff geworden, auch wenn die „Parteienfamilie“ der Rechtspopulisten inzwischen eingesessene Realität ist.
Voices: Orban spielt sich als Freund der Minderheiten auf. Er unterstützte die Fuen-Bürgerinitiative MSPI. Sind die Rechtspopulisten Freunde der Minderheiten?
Thomas Benedikter: Für rechtspopulistische Kräfte kennzeichnend ist jedenfalls der Nationalismus bis hin zum Chauvinismus. Regionale Autonomien haben in diesem dem starken Zentralstaat verhafteten Denken keinen wichtigen Stellenwert, es sei denn, es geht um die Autonomie der zur gleichen Kulturgemeinschaft gehörenden Minderheiten im Ausland wie im Falle Ungarns oder Russlands. Dort, wo Rechtspopulisten an der Macht sind, hat allgemeine Dezentralisierung, regionale Autonomie und mehr Rechte für ethnische und religiöse Minderheiten meines Wissens keine echte Chance.
SHARE