19-01-2022
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Autonomie nur dem Namen nach – Xinjiang/Ostturkestan und die autonomen Einheiten Chinas
Immer wieder berichten wir bei VOICES über die unhaltbaren Zustände der Minderheiten, Nationalitäten und Völker in China. Den Uiguren droht die kulturelle Vernichtung als Volk. Kurz vor den Winterspielen 2022 in China, muss deutlich auf die Verbrechen aufmerksam gemacht werden.
Thomas Benedikter geht für uns einen Spatenstich tiefer und analysiert Hintergründe über die Autonomiebestimmungen in China.
VOICES berichtet
Olympia 2022: Totalitäre Spiele
Thomas Benedikter, Sozialwissenschaftler aus Bozen, hat in seinem Buch „100 Jahre Territorialautonomie – Autonomie weltweit“ unter anderem die Autonomie in Xinjiang/Ostturkestan und die autonomen Einheiten Chinas analysiert.
Thomas Benedikter bei VOICES:
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 1)
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 2)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 1)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 2)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 3)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 4)
Chinas “Nationale Regionale Autonomie”
Von Thomas Benedikter
Territorialautonomie für ethnische Minderheiten („Nationale Regionale Autonomie“) ist in China ein in der Verfassung verankertes Grundrecht (Art. 31): „Regionalautonomie für ethnische Minderheiten bedeutet in China, dass unter der vereinten Führung des Staats Autonomie dort angewandt wird, wo ethnische Minderheiten in kompakt siedelnden Gemeinschaften leben. In diesen Gebieten wurden Organe der Selbstregierung eingeführt. Die Umsetzung dieser Politik ist entscheidend für die Beziehung unter Gleichheit, Einheit und gegenseitiger Hilfe der verschiedenen ethnischen Gruppen“ (Weißbuch der chinesische Regierung 2005, Präambel). Doch wurden im kommunistischen China nie „Völker“ anerkannt und das Wort Selbstbestimmung peinlichst vermieden, sondern nur sog. minzu(Nationalitäten). Vom Gedanken der Selbstbestimmung der Völker und einer föderalen Republik hatte sich die Kommunistische Partei schon 1935 verabschiedet. Das kommunistische China fürchtete eine Einmischung von außen, vor allem in den neu eroberten Grenzregionen mit bedeutenden kleineren Völkern wie den Tibetern, Uiguren und Mongolen. Andererseits hält die chinesische Verfassung von 1982 ausdrücklich daran fest, dass der großnationale Han-Chauvinismus und die lokalen Chauvinismen zu bekämpfen sind.
Unter „minzu“ versteht man in China eine historisch gewachsene Gemeinschaft von Menschen, verbunden durch gemeinsame Sprache, Territorium, Wirtschaft und Kultur. Dabei stehen Brauchtum und Sprache als wichtigste Kennzeichen der Ethnizität, seltener Geschichte und Religion. Rund 400 ethnische Minderheiten kamen bei der Staatsgründung als „minzu“ in Frage, doch nur 55 wurden anerkannt. In Gebieten, wo mindestens 20% der Bevölkerung zur ethnischen Minderheit gehören, kann zu deren Schutz eine territoriale Autonomie „unter vereinter Führung des Staats“ eingeführt werden. Erst die neue Verfassung von 1982 hat dieses Grundprinzip präzisiert, das nationale Autonomiegesetz von 1984 hat es umgesetzt, 2001 wurde es novelliert. Doch kann sich kein autonomes Gebiet selbst ein Autonomiestatut geben.
Ausgehend von diesen Grundprinzipien ist Regionalautonomie ab 1949 Schritt für Schritt umgesetzt worden, und zwar auf drei Ebenen: auf Provinzebene mit 5 autonomen Regionen, auf Bezirksebene mit 30 Autonomen Präfekturen und auf Kreisebene mit 117 autonomen Kreisen. Dazu kommen in der autonomen Inneren Mongolei drei autonome Banner etwa in der Größe von Kreisen. Den autonomen Regionen Europas entsprechen nach Flächendimension am ehesten die Präfekturen, während die fünf autonomen Regionen den Umfang großer Flächenstaaten einnehmen. Allein die fünf autonomen Regionen umfassen zwei Drittel der Landfläche der Volksrepublik China.
Als erste wurde schon 1947, somit zwei Jahre vor Ausrufung der Volksrepublik, die Innere Mongolei als autonome Region konstituiert, in welcher die Mongolen heute allerdings mit 17% eine kleinere Minderheit gegenüber 79% Han-Chinesen bilden. In der Inneren Mongolei leben dennoch mehr ethnische Mongolen als in der Republik Mongolei. Die Autonome Region der Uiguren in Xinjiang wurde 1955 gegründet, Ningxia und Guangxi wurden 1957 autonom und als letzte Region erhielt Tibet 1965 Territorialautonomie. Unter den fünf autonomen Regionen Chinas gibt es nur in Tibet eine absolute Bevölkerungsmehrheit der Titularethnie. In Xinjiang bilden die Uiguren derzeit noch die relative Mehrheit.
Innerhalb der vier autonomen Regionen Tibet, Innere Mongolei, Ningxia und Guangxi gibt es keine autonomen Präfekturen und Kreise. Nur im stärker multiethnischen Xinjiang (Ostturkestan) gibt es Verwaltungsautonomie auch für andere Minderheiten in Form von sechs autonomen Kreisen der Tadschiken, Kasachen, Mongolen, Hui und Xibe. Die Autonomen Regionen können in der Theorie in zahlreichen Politikfeldern eigenständig entscheiden, doch Vorrang haben immer die zentralstaatlichen Vorgaben für „Einheit, Harmonie und sozialistische Entwicklung“.
Chinas System der Territorialautonomie gründet auf dem Staatsgesetz zur „Regionalen nationalen Autonomie“ von 1984, das 2001 novelliert worden ist, sowie auf dem Durchführungsgesetz von 2005. Machtausübende Regierungsgewalten sind der Volkskongress und die Volksregierung der jeweiligen Ebene. Die autonomen Regionen, Präfekturen und Kreise sind für die Regelung lokaler und ethnischer Fragen zuständig, und haben eine gewisse Selbstverwaltung im Bildungssystem, Sprache, Brauchtum und Kulturpolitik. Sie haben auch besondere Finanzierungsrechte. Die Kontrolle der Gesetzgebung, sofern vorhanden, obliegt der Zentralregierung in Peking. Die reale politische Macht liegt aber im chinesischen System eindeutig bei der Kommunistischen Partei und ihren lokalen Strukturen.
Bei multiethnischen autonomen Einheiten müssen alle Ethnien im autonomen Volkskongress und in der Volksregierung in angemessener Form vertreten sein, möglichst proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil. Wenn dieser Anteil unter 50% liegt, muss die ethnische Minderheit sogar überproportional vertreten sein. Die Regierungschefs der autonomen Einheiten müssen der jeweiligen Titularethnie angehören, was angesichts der Einparteienherrschaft keine große Bedeutung hat. In den meisten Fällen versuchte die KPCh die Eliten dieser Völker und Volksgruppen irgendwie zu kooptieren. Das chinesische Autonomiesystem hat sich auf kultureller Ebene in vielen Fällen bewährt, die Identität der Minderheiten gewahrt, Sprachenrechte gesichert, Assimilation verhindert. China hat somit in seinem Staatsaufbau einen autonomiefreundlichen Grundansatz. Mit vielen Minderheiten hatte schon das Kaiserreich gute Beziehungen gepflegt. Autonomie wird somit als historisch gewachsenes Recht und staatliche Organisationsform zum Schutz der Minderheiten betrachtet. Schließlich gab es auch im Kampf gegen koloniale Invasoren im 19. und 20. Jahrhundert fast immer einen politischen Konsens zwischen den Han-Chinesen und den Minderheiten. Die systemische Grenze bildet das autoritäre System dieses Staats.
Echte Autonomie in der Volksrepublik China?
Können die Formen von Territorialautonomie in China als „moderne Autonomie“ eingestuft werden? Sowohl aus staatsrechtlichem als auch aus politischem Blickwinkel sind Zweifel berechtigt. Das gesetzgebende Organ der autonomen Regionen (die „Autonomen Volkskongresse“) und das exekutive Organ (Volksregierungen) können zwar Gesetze verabschieden oder anpassen, doch muss jeder Rechtsakt von der Zentralregierung gegengezeichnet werden. Dadurch wird der autonome politische Handlungsspielraum sehr stark eingeengt. Das Prinzip der Einheit und der allgemeinen Staatsinteressen ist am Ende immer der Autonomie übergeordnet.
Ein Beispiel für diese Aufweichung und Relativierung der Autonomie liefert Art. 7 des Gesetzes zur Regionalen Autonomie, worin festgelegt wird, dass „die Organe der Selbstverwaltung der ethnischen autonomen Gebiete die Interessen des Gesamtstaates über jedes andere Interesse stellen muss und positive Anstrengungen vollbringen muss, um die von übergeordneten Staatsorganen gesetzten Ziele zu erreichen.“ (Art.7 GesRNA). In diesem Kontext muss ein grundlegender Aspekt des Staatsaufbaus Chinas immer präsent bleiben: die Parteihierarchie bildet eine parallele Machtstruktur, die die politischen Vertretungsorgane beherrscht und ihren Entscheidungsspielraum von vornherein stark begrenzt. Von der Partei unabhängige Entscheidungsverfahren sind somit nicht gewährleistet oder gar den Interessen der Partei zuwiderlaufende Entscheidungen sind gar nicht erst möglich. Auch wenn formal einige Zuständigkeiten an die autonomen Einheiten übertragen worden sind, sind zwei zentrale Kriterien für echte Autonomie in der Verfassungsordnung Chinas nicht gegeben: die freie politische Entscheidungsfindung durch direkt vom Volk gewählte politische Vertreter und die volle Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit mit unabhängigen Gerichten und Gewaltenteilung.
Es ist unmöglich, den Grad der Zustimmung der ethnischen Minderheiten Chinas zu den heutigen Autonomieregelungen zu ermitteln. Auch unabhängige Forscher bestätigen, dass Chinas Minderheitenpolitik die konkrete Lage der Minderheiten in vielen Gebieten verbessert hat, verglichen mit der Vergangenheit im Kaiserreich (Shuping Wang, 2004). Andererseits gehören die angestammten Gebiete der Minderheiten zu den ärmsten und wirtschaftlich rückständigsten ganz Chinas. Das Wirtschaftsgefälle zwischen den Minderheitenregionen und anderen Provinzen, insbesondere den boomenden Küstenregionen, lässt manche Minderheit aufbegehren. Die chinesische Regierung will in jüngster Zeit die wirtschaftliche Entwicklung der zentralen und westlichen Regionen vorantreiben, wo die meisten Minderheitenvölker leben. Doch in der Zwischenzeit hat das überhitzte Wirtschaftswachstum neue Probleme aufgeworfen, wie die intensivere Nutzung der Böden, Gewässer, Wälder und der großflächige Abbau von Bodenschätzen in den Minderheitenregionen, der den Lebensraum der Minderheiten bedroht.
Daneben gibt es auch Kritik an Autonomieregelungen seitens der Han-Mehrheitsbevölkerung. In vielen autonomen Gebieten sind die Minderheiten in ihrem angestammten Gebiet auch zahlenmäßig in der Minderheit, genießen jedoch in verschiedener Hinsicht eine Vorzugsbehandlung (positive Diskriminierung, überproportionale Vertretung im Beamtenapparat, andere Formen der Förderung). Dies empfinden wiederum viele Han-Chinesen als Diskriminierung. Verschiedentlich ist die Notwendigkeit einer autonomen Einheit in Frage gestellt worden, wenn eine nationale Minderheit auch lokal bzw. regional in der Minderheit ist. Dies ist heute in drei der fünf autonomen Regionen der Fall, nämlich in Guangxi, Ningxia und in der Inneren Mongolei. Andere betrachten die Existenz von autonomen Gebieten überhaupt als Bedrohung der nationalen Einheit Chinas.
Xinjiang/Ostturkestan: Eine Strategie der kulturellen Auslöschung
Mit „Xinjiang“ (westliches Grenzland) bezeichnen die Chinesen Ostturkestan, der historische Siedlungsraum des Turkvolks der Uiguren. Ostturkestan war vor dem Einmarsch der Roten Armee 1949 zwei Mal für kurze Zeit unabhängig gewesen, dann unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts in die Volksrepublik eingegliedert worden. 1955 konstituierte China die „Xinjiang Uigurische Autonome Region“ (XUAR). Schon in den 1950er Jahren wurden Säuberungen unter den Intellektuellen Ostturkestan durchgezogen, die sich während der Kulturrevolution verschlimmerten. Ab den 1960er Jahren betrieb die KPCh eine Umsiedlungspolitik, um die kompakte Siedlungsweise der Uiguren auf dem Land aufzulösen und sie zur Abwanderung in die Städte zu drängen. Die Phase der Öffnung Chinas unter Deng Xiao Ping und Hu Yaobang nutzten die Uiguren, um echte Autonomie und ein Ende der vielfachen Diskriminierung zu fordern. Mehrfach wurden solche Proteste gewaltsam niedergeschlagen, woraufhin radikalisierte Gruppen Anschläge verübten. In Ostturkestan kam es ab 1997 wiederholt zu schweren Unruhen und Spannungen zwischen Han und Uiguren. 2009 sind bei
Ausschreitungen in Urumqi Hunderte von Menschen zu Tode gekommen. Der Staat versuchte den Widerstand der Uiguren als Terrorproblem darzustellen, gegen das mit aller Härte vorgegangen werden müsse.
Schon vorher, nämlich seit der Jahrtausendwende hat China auf eine Strategie der Assimilation der Uiguren durch verstärkte Zuwanderung umgeschaltet. Waren nach staatlichen Angaben 1953 noch 75% der Bevölkerung Xinjiangs Uiguren und nur 6% Han-Chinesen, sind nach letzten offiziellen Daten die Uiguren eben noch 45%, die Han-Chinesen 41% der Bevölkerung. In der Hauptstadt Urumqi sind – ähnlich wie in Lhasa – längst mehr als drei Viertel Chinesen. Diese vom Staat systematisch geförderte Zuwanderung aus dem Osten hat das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben Ostturkestans völlig umgekrempelt. Die landeseigene Kultur ist durch chinesisch geprägtes Leben und chinesisch dominierte Institutionen und Wirtschaftsleben ersetzt worden. In absehbarer Zeit werden die Uiguren zur Minderheit im eigenen Land werden.
Die religiösen Bräuche und Traditionen, die literarische Produktion, Kunst, Kultur und Architektur der Uiguren werden in diesem Sinn als rückständig abgetan. Der chinesische Mainstream wird nicht nur technologisch, sondern auch als kulturell überlegen und modern dargestellt. Wie in zahlreichen anderen Minderheitengebieten wird der Ausdruck uigurischer Volkskultur gerade noch als Folklore geduldet. Nach außen sichtbar wird dieses Assimilierungsprojekt in der neuen Architektur in Xinjiang: während einerseits die uigurischen Altstädte als unhygienisch niedergewalzt werden, verwandeln die neuen Hochhaussiedlungen Ostturkestan in eine beliebige chinesische Provinz. Die unwiederbringliche Zerstörung der alten Baukultur der Uiguren kann am besten in Kashgar an der Seidenstraße beobachtet werden. Bauten in den früheren Qing-Kaiserreich zugewanderte Han-Chinesen ihre Viertel noch getrennt von den älteren Bauwerken der Uiguren, ist es heute anders: auch in Architektur muss alles Uigurische dem chinesischen Modernisierungsmodell weichen.
Von den politischen Entscheidungsprozessen sind Uiguren schon lange ausgeschlossen, abgesehen von willfährigen Kollaborateuren in der KPCh, die von oben ausgewählt und nominiert werden. Die Zuwanderung aus den östlichen Provinzen Chinas führt zusammen mit der kulturellen Überfremdung zu einer ethnisch segregierten Gesellschaft. Han-Chinesen erhalten die besten Jobs, alle Führungspositionen und dominieren auch das Bildungssystem. Uiguren und kleinere Minderheiten erleiden schon aus sprachlichen Gründen systematische Diskriminierung. Der Verzicht auf echte Gleichberechtigung und Weiterentwicklung der uigurischen Sprache, die Unterdrückung des religiösen Lebens, die Verdrängung der uigurischen Kultur aus dem öffentlichen und privaten Leben, der Ausschluss der Uiguren aus den politischen Entscheidungsprozessen sind seitdem Teil des chinesischen „Modernisierungsprogramms“ des fernen Westens. Es geht China darum, die kulturelle Hinorientierung der Uiguren zum islamischen Zentralasien zu verhindern, sie voll und ganz ins Han-dominierte China zu integrieren und letztlich um die Auslöschung einer eigenständigen kulturellen Identität der Uiguren. Sie stehen heute als gesamtes Volk unter Druck, sich einem vom Staat propagierten, von Han-Chinesen verbreiteten und von lokalen Behörden durchgesetzten Entwicklungsmodell unterzuordnen. Uiguren stehen damit nur zwei Möglichkeiten offen: Anpassung und Assimilation verbunden mit einigen wirtschaftlichen Vorteilen oder Widerstand unter dem Generalverdacht des Extremismus und Separatismus.
Totale Überwachung und Repression
Da sich die Uiguren sich dieser seit Jahrzehnten andauernden Politik nicht widerstandslos unterworfen haben, hat der Staat zu Maßnahmen der verpflichtenden Indoktrinierung und zur Repression jeden Widerstands gegriffen. Ein umfassender Überwachungs- und Kontrollapparat mit Hightech-Methoden ist aufgebaut worden. Die Menschenrechtsverletzungen gipfeln in der Eirichtung von Umerziehungslagern für mehr als eine Million Uiguren.
Die Tendenz zur Überwachung ist in China laufend gewachsen und hat sich seit Amtsantritt von Xi Jinping verschärft. Zielgruppen sind verschiedene soziale und ethnische Gruppen wie Bürgerrechtler, religiöse Minderheiten, Universitätsprofessoren, doch auch ein ganzes Volk: die Uiguren. Xinjiang ist inzwischen zu einem Polizei- und Überwachungsstaat geworden, der weltweit seinesgleichen sucht. Wie der Präsident des Weltkongresses der Uiguren Dolkun Isa berichtet, sind Tausende von Überwachungskameras, ein feinmaschiges Netz an Straßenkontrollposten und eine systematische Überwachung der Kommunikation im Internet und Mobilfunk Kernpunkte der Überwachung. Dazu kommen die Umerziehungslager. Die von unabhängigen Journalisten in den Westen geschleusten „China Cables“, eine Fülle amtlicher Dokumente aus dem Innersten des Machtapparats der KPCh, haben diese Strategie bestätigt: China hat in Xinjiang flächendeckend „Erziehungseinrichtungen für die Uiguren“ eingerichtet. Dabei geht es freilich nicht um Bildungseinrichtungen, sondern um Internierungslager. Die Inhaftierten müssen eine verordnete Schulung absolvieren, um überhaupt wieder freizukommen. Auf dem Programm der Schulungen stehen Chinesisch, die Parteidoktrin und die Lehre von Xi Jinping.
Warum setzt China auf diese rigorose Unterdrückung der Uiguren? Weil sie meint, dies sei der einzige Weg für Sicherheit und Stabilität, so wie es sich die KPCh vorstellt. Die Unterdrückung der Uiguren ist eigentlich nicht neu, hat aber seit 2014 neue Dimensionen angenommen. Es geht um eine allgemeine staatliche Unterdrückung, nicht nur die individuelle Verfolgung von politischen Aktivisten. Hehre Prinzipien von regionaler Autonomie und dem Schutz ethnischer Minderheiten, die in der chinesischen Verfassung und Staatsgesetzen verankert sind, werden in Ostturkestan ad absurdum geführt.
Keine Autonomie ohne Demokratie
China hat ein differenziertes System regionaler und lokaler Territorialautonomie eingerichtet, um den Forderungen und Wünschen seiner 55 nationalen Minderheiten zu genügen, die in Wirklichkeit oft kleinere Völker sind. Es gibt berechtigte Zweifel daran, ob diese Einheiten als „autonome Regionen“ angesehen werden können, zumal eine wesentliche Qualität nicht gegeben ist: Demokratie. Darüber hinaus sind auch die Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung zahlreicher Menschenrechte nicht gegeben, auch wenn diese „nationalen Autonomien“ bestimmte Bedürfnisse und Interessen der Minderheitenvölker abdecken. Rechtsschutzmechanismen sind im Justizwesen der VR China unterentwickelt.
Um von echter Territorialautonomie sprechen zu können, fehlt eine weitere Grundvoraussetzung: demokratische Grundrechte, Entscheidungsverfahren und Vertretungsorgane. Dies muss nicht unbedingt Parteienpluralismus im westlichen Sinn umfassen, aber die demokratischen Grundrechte und politischen Freiheiten müssen gewahrt sein, vor allem das Recht, die politischen Vertreter in der Regionalversammlung frei zu wählen und das Recht, als Staatsbürger frei bei jeder Wahl kandidieren zu dürfen. Weitere wichtige politische Grundrechte, die in den UN-Grundrechtecharta, im ICCPR und ICSER von 1966 verbrieft sind, werden in China nicht eingehalten. Die eklatantesten Beispiele für die Verletzung nicht nur demokratischer Grundrechte, sondern auch elementarer Menschenrechte sind heute die XUAR (Xinjiang/Ostturkestan) und die Autonome Region Tibet.
Bei der Regelung der Autonomie wird ständig Bezug genommen zur „sozialistischen Entwicklung“, die die Politik der autonomen Gebiete bestimmen muss. Die Autonomie ist somit eingebettet in einen Rahmen nationaler Gesetze, Regeln und Institutionen. Doch gibt es keinen rechtsstaatlichen Mechanismus für die Kontrolle der vertikalen Gewaltenteilung. Die kommunistische Partei behält sich die allgemeine Kontrolle vor. Nirgendwo wird direkte Partizipation der Bevölkerung des Gebiets vorgesehen, außer bei Wahlen auf der untersten Ebene. Die schwache Ausbildung des Rechtsstaats in China und das Fehlen eines demokratischen Systems sowie die übergeordneten Ziele der Einheit und Kontrolle der wirtschaftlichen Entwicklung verhindert echte Territorialautonomie, auch in den Regionen ohne flächendeckende Verletzungen der Menschenrechte wie Guangxi und Ningxia. Mit den Worten von Yash Ghai: „Es gibt keine unabhängige Instanz, die die Grenzen überwacht, weshalb es keinen klaren Schutz vor Eingriffen in die Autonomie gibt. Die Kommunistische Partei behält ihre umfassende Kontrolle und innerhalb der Partei gibt es kein Erfordernis lokaler Partizipation oder Autonomie.“ (Ghai, 2000, 91)
In der Diskussion der Frage „Autonomie in China“ muss zuallererst berücksichtigt werden, dass Autonomie in diesem System einen anderen Stellenwert hat als in einem demokratischen Kontext. In China ist Autonomie abgekoppelt von politischem Pluralismus und Rechtstaatlichkeit im westlichen Sinn. Es geht um eine Regierungsform, bei welcher ethnische Gruppen zusammen mit den Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung mehr Macht in politischen Entscheidungsprozessen (Exekutive und Legislative) erhalten. Der chinesische Staat anerkennt die Eigenart der Ethnien und Minderheitenkulturen auf seinem Territorium und ist an der Förderung ihrer politischen Partizipation und sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung auch offenkundig interessiert. Doch sämtliche Autonomiebestimmungen haben sich im Rahmen der übergeordneten Staatsgesetze und Institutionen zu bewegen und letztlich im Rahmen der herrschenden Machtstruktur. Diese schränkt Freiheit und Bewegungsspielraum der untergeordneten Gemeinschaften und Institutionen erheblich ein:
Territorialautonomie aus chinesischer Sicht
Aus der Sicht der heute in China an der Macht befindlichen Elite gibt es eine weitere „notwendige“ Begrenzung des Konzepts der Territorialautonomie. Es muss eine ethnische Legitimation und eine Forderung einer Minderheit nach Autonomie vorliegen, doch die Gewährung von Autonomie wird an die Auflage der Loyalität zum chinesischen Staat und der Unterordnung unter die Gesamtinteressen des Staates geknüpft. Sprache, Kultur und Bildungswesen sind in gewissem Ausmaß geschützt, insofern die ethnische Identität nicht zu einem anderen, „staatsfremden“ politischen Selbstbewusstsein führt. Die führende Schicht der Han-Chinesen weiß um die geschichtliche Erfahrung des Han-Chauvinismus und die Assimilation vieler Minderheitenkulturen in die dominante Kultur. Somit respektiert sie ihre Geschichte, Traditionen, Bräuche, insoweit sie sich als Teil der „Geschichte Gesamtchinas“ begreifen.
Doch wann immer Minderheitenvölker sich nicht in dieses übergeordnete politische Schema hineinzwingen lassen wollen, wird Autonomie zur Bedrohung. So z.B. pflegen der tibetische Buddhismus und der Islam Xinjiangs, aufbauend auf der jeweiligen religiösen Identität, andere Weltan-schauungen als die Kommunistische Partei Chinas. Ein eng begrenzter politischer Entscheidungsspielraum unter strikter Kontrolle von oben: das ist alles. Dies betrifft weniger die früher durchgreifende kommunistische Verregelung der Gesellschaft und den heutigen Überwachungsstaat, als die Grundkonzepte von Wertesystemen, menschlicher Entwicklung und Menschenrechten.
Die religiöse Grundlage von ethnischer Identität wird heute in vielen Regionen der Erde stärker von marktwirtschaftlicher Dynamik denn von marxistisch-leninistischen Dogmas beeinträchtigt. Auch in China bedroht mittlerweile die starke Betonung der Wirtschaftsmodernisierung die Lebensweise der Minderheitenvölker stärker, da sie mehr als früher ins ökonomische Gesamtsystem integriert und ihre Bodenschätze dem Zugriff von außen noch mehr geöffnet werden, was zu schwerwiegenden Umweltauswirkungen und gewaltigen Migrationsbewegungen von Han-Chinesen geführt hat. Solch gefährliche Entwicklungen können vor allem in Xinjiang und Teilen Tibets beobachtet werden. Wenn die selbstständige Verwaltung eines autonomen Gebietes „ethnisch“ in engerem Sinn wird, wird die Autonomie schnell beschnitten oder die parallele Machtstruktur der Kommunistischen Partei schreitet mit entsprechenden Korrekturen ein. Autonomie scheint nur bis zu jenem Grad toleriert zu werden, an dem sie das Gesamtprojekt der Kommunistischen Partei nicht stört. Souveränität, nationale Einheit und Nicht-Einmischung von außen sind die zentralen Angelpunkte, der Anspruch auf „interne Selbstbestimmung“ bleibt den Machthabern verdächtig, nicht nur in politischer Sicht, sondern gerade dann, wenn er als zivilisatorischer Anspruch geäußert wird.
Dieses Autonomieverständnis ist eng mit der Entstehung des Autonomiekonzepts in der Geschichte der Kommunistischen Partei verbunden, wo partnerschaftliche Verhandlungen zwischen Minderheitenvölkern und ihren legitimen Vertretern und den Vertretern des Mehrheitsvolkes des Staates nie stattgefunden haben. Trotz der grundsätzlichen Fragwürdigkeit von „Autonomie“ in diesem Staat muss aber zur Kenntnis genommen werden, dass China im Vergleich mit anderen demokratisch regierten Megastaaten wie Indien, Indonesien, Brasilien und Nigeria auch beachtliche Leistungen in der Verwaltungsautonomie auf lokaler Ebene und kulturellem Minderheitenschutz vorweisen kann und die Wünsche und Interessen einiger der 55 offiziell anerkannten Minderheitenvölker in gewissem Ausmaß erfüllt hat.
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