12-10-2023
„Französische Revolution: Korsika auf dem Weg zur Autonomie?“
Jan Diedrichsen hat in seiner Kolumne Positives für Minderheiten in Europa zu vermelden. In Spanien soll Katalanisch, Baskisch und Galicisch neben dem offiziellen Kastilisch zugelassen werden. Und ausgerechnet im zentralistischen Frankreich wird über Autonomie für Korsika nachgedacht.
Korsika
Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“
Von Jan Diedrichsen
Der amtierende spanische Regierungschef Pedro Sánchez wurde am Dienstag von König Felipe VI. mit der Regierungsbildung beauftragt. Sánchez wird für die Fortführung seiner Regierung die Unterstützung der Katalanen im Parlament benötigen. Der Sozialist Sánchez hat schon deutlich gemacht, dass er weit gehen will, um die Katalanen an Bord zu holen: Katalanisch, Baskisch und Galicisch sollen im spanischen Parlament neben dem offiziellen Kastilisch ebenfalls gesprochen werden können. Und die Sprachen sollen auf Drängen der spanischen Regierung auch zu offiziellen EU-Sprachen werden. In dem kastilisch-nationalistisch geprägten Spanien eine Revolution, die natürlich weniger der plötzlichen Liebe für das Katalanische geschuldet, sondern auf die politische Machtarithmetik zurückzuführen ist.
Und als wäre das nicht schon (freudige) Überraschung genug, folgt nun die zweite Sensation: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit Blick auf Korsika zwar nicht die Revolution ausgerufen, aber eine Autonomie in Aussicht gestellt. In Frankreich wäre das noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Ist Frankreich doch bis ins Mark zentralistisch organisiert, und der sprichwörtliche französische Nationalstolz kann sich kaum ausmalen, dass man etwas anderes als Franzose sein möchte, falls man die Wahl hat.
Doch zurück zur Revolution: „Lasst uns die Kühnheit haben, eine korsische Autonomie innerhalb der Republik aufzubauen“, sagte Macron in seiner Rede am 28. September und streckte im korsischen Parlament, in dem manche Abgeordnete sitzen, die von einer Unabhängigkeit von Frankreich träumen, symbolisch die Hand aus. Diese Äußerungen kommen weniger als ein Jahr nach den schweren Unruhen auf der Insel, die ausgebrochen waren, nachdem der militante korsische Nationalist Yvan Colonna in französischer Haft getötet worden war. Colonna saß wegen der Ermordung des Präfekten Claude Érignac, des höchsten französischen Beamten auf der Insel, eine lebenslange Haftstrafe ab.
Colonna gelang nach dem Mord 1998 eine fünfjährige Flucht. Er versteckte sich als Hirte und wurde zu einem Symbol für den gewaltsamen Widerstand der Insel gegenüber dem französischen Staat. Sein Tod in Haft löste wütende Reaktionen aus. Tausende von Demonstrierenden zogen im vergangenen Jahr durch die Städte der Insel und hielten Transparente mit der Aufschrift „Statu Francese Assassinu“ (Der französische Staat ist ein Mörder) und „I Francesi fora“ (Raus mit den Franzosen) hoch. Jugendliche gerieten mit der Polizei aneinander, und die Angst vor einer Rückkehr zu Gewalt und Blutvergießen machte sich breit, die die Insel von den 1970er-Jahren bis zur Jahrhundertwende erschüttert hatten.
Doch es gelang – auch durch das bedächtige Auftreten der politischen Parteien –, die Wut zu bändigen. Sicher ist dies auch eine Ursache dafür, dass es nun zu hoffentlich ernsthaften Verhandlungen über eine Autonomie-Lösung auf der Insel kommt.
Die Rede war, wie Macron selbst es ausdrückte, „historisch“ – und da hat er recht: Nie zuvor hatte ein französischer Präsident offen die Autonomie der Insel befürwortet, die zu Frankreich gehört, seit sie 1768 von ihren genuesischen Herrschern gekauft und dann gewaltsam unterworfen wurde.
Die politische Lage auf der Insel ist nicht zuletzt seit den Regionalwahlen 2021 eindeutig: In der Regionalversammlung konnten die Befürworterinnen für die Unabhängigkeit oder eine Autonomielösung mehr als zwei Drittel der Sitze für sich entscheiden.
Nach dem vom französischen Präsidenten aufgestellten Zeitplan haben die korsischen Gesetzgeber bis März 2024 Zeit, eine Art „Konsens“ über einen Vorschlag für die korsische Autonomie zu erzielen, der für seine Regierung akzeptabel ist. Der Vorschlag geht dann an das französische Parlament in Paris, wo sich beide Kammern auf einen Verfassungsartikel einigen, der drei Fünftel aller Stimmen in beiden Kammern auf sich wird vereinigen müssen.
Es werden schwierige Verhandlungen – auch zwischen den verschiedenen korsischen Positionen, die von einer Unabhängigkeit vom verhassten Frankreich reichen bis hin zu den Autonomisten, die Selbstverwaltung und Autonomie als Lösung erkennen.
Die Geschichte wird zeigen, ob es Sánchez und Macron waren, die ein neues Kapitel für die Nationalitäten Europas im „alten Westen“ eröffnet haben. Wer hätte das gedacht …
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