18-10-2021
Die Wurzeln des äthiopischen Krieges: Alte Eliten und die UNESCO legten die Grundlage für die inner-äthiopischen Konflikte

Von Wolfgang Mayr
Der Krieg der Zentrale gegen Tigray wird mit aller Härte geführt. Gezielt werden Mädchen und Frauen vergewaltigt, Felder und Dörfer vernichtet, die übliche Politik der verbrannten Erde. Ein Krieg, der in der Vergangenheit wurzelt. Und vom Westen befeuert wurde. Eine Analyse der „Geschichte der Gegenwart“.
In den westlichen Medien wird der Krieg als regionaler Konflikt zwischen verschiedenen zerstrittenen Ethnien beschrieben. Für die Geistes- und KulturwissenschaftlerInnen der „Geschichte der Gegenwart“ ist die Ursache komplexer und nicht nur „national“.
Die ehemalige äthiopische Elite – die christlichen Amharen – verfolgte eine nationalistische Kultur- und Geschichtspolitik, die auch von der Unesco angeheizt wurde. Stichwort Weltkultur-Erbe. Die Unesco-Politik stärkte die nationalistische Position und Vormacht der christlich-amharischen Kultur im äthiopischen Hochland.
Die „Geschichte der Gegenwart“ folgert daraus: „Äthiopien ist mithin ein eindrückliches Beispiel dafür, dass der Kampf um die Deutungshoheit über die historische Legitimation von Souveränitäts- und Territorialkonflikten in multiethnischen Gesellschaften sich auch in einer internationalen Arena abspielt und vermeintlich lokale Konflikte ohne die Einbettung in globale Zusammenhänge nicht zu verstehen sind.“
„Geschichte der Gegenwart“ macht für den gegenwärtigen Konflikt um die Region Tigray in Äthiopien die verschiedenen inner-äthiopische Nationalismen aus. Es geht auch um die Frage, ob das moderne Äthiopien das Ergebnis einer vorkolonialen Integration ist oder aber das Produkt eines kolonial-imperialen Projekts.
Erst spät Einheitsstaat
Äthiopien wurzelt in der salomonidischen Herrscherdynastie, der Beginn der äthiopischen Geschichte, so die Interpretation der vorkolonialen Geschichte Mitte des ersten Jahrtausends vor Chr. Die Verbindung der Königin von Saba mit Salomon ist so etwas wie die Gründungsszene des äthiopischen Nationalstaats. Fakt ist aber, dass sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentral regierte äthiopische Monarchie etablieren und durchsetzen konnte.
Die Nationalstaatsbildung bekam in den 1950er Jahre neuen Anschub, ging es doch darum, Gebietsansprüche zu legitimieren und die Flugkraft der mehr als 80 Ethnien zu kontrollieren.
Treibende Kraft hinter den zentralstaatlichen Ansprüchen war Kaiser Haile Selassie I. (1892-1975). Der christliche Amharer setzte auf den groß-äthiopischen Nationalismus, auf die rigorose kulturelle Assimilation der Nicht-Amharen. Amharisch, obwohl nur für 30 Prozent der Bevölkerung Muttersprache, wurde zur offiziellen äthiopischen Sprache erklärt. Die Geschichte und Kultur der christlichen Hochland-Bevölkerung der Amharen und Tigray erhob der Kaiser zur kollektiven äthiopischen Geschichte. Die vielen anderen ethnischen Gruppen erhielten das Prädikat „geschichtslose/archaische/unzivilisierte“ Völker aufgedrückt.
Dazu zählen auch die Oromo, die größte Nationalität Äthiopiens. Das äthiopische Reich besetzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das eigenständige Oromo-Land. Laut der äthiopischen Staatsideologie handelte es sich aber um eine Zivilisierungsmission und um ein erfolgreiches staatliches Einigungsprojekt. Die Amharen warfen den Oromo vor, barbarische Invasoren zu sein. Mit dieser Erzählung trieb Kaiser Haile Selassie die Assimilierung der Oromo voran.
Die amharische Elite versuchte ihre nationalistische Ideologie wissenschaftlich zu begründen. Dafür wurden eine ganze Reihe von staatlichen Institutionen gegründet wie das archäologische Institut, die Denkmalbehörde, das Nationalmuseum, dasNaturkundemuseum, das ethnologische Museum und das Institute for Ethiopian Studies der Addis Abeba University. Laut „Geschichte der Gegenwart“ Produktionsorte der neuen Nationalgeschichte unter strenger staatlicher Kontrolle.
„Geschichte der Gegenwart“ stieß aber auch auf die internationale Verflechtung des groß-äthiopischen Nationalismus der Amharen mit dem Westen. Dieser betrachte Äthiopien als eine ursprüngliche, unberührte christliche Enklave in Afrika. Dieses Bild entsprach der amharischen Nationalstaats-Ideologie. Gepflegt wurde sie nicht nur im Kaiserreich, sondern auch von den roten Militärs, Amharen auch sie, die gegen den Kaiser putschten.
Unesco-Politik heizte an
Im Norden des Land befinden sich christlichen Stätten wie drei der ältesten und berühmtesten UNESCO-Welterbestätten Afrikas: Die Felskirchen von Lalibela, die der Legende nach im 12. Jahrhundert in Anlehnung an Jerusalem gebaut wurden, die mittelalterlichen Burgen von Gondar und die antiken Palastanlagen und Stelenfelder von Aksum, die Heimat der sagenhaften Königin von Saba.
Diesen kleinen Teil Äthiopiens interpretierte der Westen wegen seines christlichen Hintergrundes zum gesamtstaatlichen Wesenszug. Die dominierenden christlichen Amharen und der Westen sorgten dafür, dass diese Geschichte zur Nationalerzählung hochgeschrieben wurde. Die US-amerikanische Historikerin Jill Lepore spricht in diesem Zusammenhang von der erfundenen nationalen Geschichte.
Die UNESCO kümmert sich seit den 1960 Jahren um das erwähnte christliche Kulturerbe der Amharen. Es wurde restauriert und gepflegt und so zum Anziehungspunkt für Kultur-Touristen, aber auch zu einer Bühne für eine nationalistische Geschichtspolitik, analysiert „Geschichte der Gegenwart“. Durch die Erhöhung der christlichen Stätten zum Weltkulturerbe, für dessen Pflege der Staat zuständig ist, sorgte die UNESCO für die internationale Aufwertung und Anerkennung der Amharen als äthiopisches Staatsvolk: „Die Geschichte dieser wissenschaftlichen Praxis ist eng mit der Geschichte der imperialen Expansion europäischer Staaten, mit rassistischen und kolonialen Ideologien verbunden.“
Mit anderen Worten, der Westen lieferte den Nationalstaaten in der „Dritten Welt“ die Argumentation für eine Nationalgeschichte der herrschenden Eliten. Diese behielten die kolonial gezogenen Grenzen bei, obwohl dadurch Nationen auseinandergerissen wurden. „Entsprechend hoch rangierten geschichtspolitische Maßnahmen und der Aufbau staatlicher Institutionen auf der Agenda in vielen postkolonialen afrikanischen Staaten,“ kommentiert „Geschichte der Gegenwart“.
In Äthiopien tobt seit langer Zeit schon „war of narratives“ zwischen den verschiedenen Nationalitäten und Nationen. Daraus wurde ein Zusammenspiel einer Geschichtspolitik, die die staatliche Einheit vorantrieb unter dem Prädikat internationalen Kulturgüter-Schutzpolitik eurozentristischer westliche Prägung.
Die UNESCO sorgte letztendlich mit ihrer Welt-Erbe-Stätten-Politik für Spannungen in den Entwicklungsländern. „Die Situation in Äthiopien gibt Anlass zu reflektieren, was es bedeutet, dass internationale Konventionen ihre Wurzeln in imperialen, kolonialen, europäischen Denktraditionen haben – und welche Rolle scheinbar außenstehenden Akteuren in ethnischen Konflikten zukommt,“ fordert „Geschichte der Gegenwart“ zu einem gründlichen Nachdenken auf.
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