„Die Ukraine muss gewinnen“

Die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aus Belarus spricht in der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“ über den russischen Krieg in der Ukraine, den „roten Menschen“ und wie es danach weitergeht.

Tageszeitung: Frau Alexijewitsch, vor drei Jahren haben Sie in einem Interview mit Literatur Lana gesagt, dass Sie an einem Buch über die Liebe arbeiten. Schreiben Sie noch daran oder ist durch die Ereignisse in Ihrer Heimat Belarus und den russischen Überfall auf die Ukraine keine Zeit mehr für das Thema Liebe? 

Swetlana Alexijewitsch: Die Arbeit an dem Buch musste ich 2020 nach den Ereignissen in Belarus unterbrechen. Mir ist mit Hilfe eines Diplomaten die Ausreise nach Deutschland gelungen, aber sämtliche Manuskripte, und das sind mehrere Koffer voll, musste ich zurücklassen. Es ist alles in Minsk und in meinem Wochenendhaus geblieben, und ich weiß nicht, ob und wie viel davon überhaupt noch existiert.  Es kann sein, dass alles zerstört wurde. Wenn es meine Notizen noch gibt, möchte ich das Buch auf jeden Fall zu Ende schreiben. Derzeit arbeite ich aber an einem Buch über Revolution und Krieg.

Es fahren wieder Panzer durch die Straßen, Städte werden zerstört, Menschen getötet. Hätten Sie das für möglich gehalten oder klammerten Sie sich, wie wir alle, an die naive Hoffnung, so etwas würde nicht mehr vorkommen? 

Ich dachte wie viele andere, vor allem in Europa, dass ein Krieg im Zentrum von Europa nicht mehr denkbar ist. Aber als Putin Panzerdivisionen aus dem Osten an die ukrainische Grenze verlegt hat, wurde mir klar, dass es ernst ist. Als der Einmarsch erfolgte, konnte ich es als Halbukrainerin immer noch nicht fassen. Es hat einfach wehgetan, die kilometerlangen Panzerdivisionen zu sehen, die die Grenze niedergewalzt haben. Mir kam vor, die Welt ist wie eine Tasse umgekippt.

Wie wird der Krieg Ihrer Meinung nach enden?

Ich hoffe, dass Europa nicht müde wird, die Ukraine zu unterstützen und dass in den USA nicht Trump an die Macht kommt. Wir haben es hier mit einem Kampf gegen den neuen Faschismus zu tun, den Putin in Russland die Welt gesetzt hat. Die Welt muss erkennen, dass es nicht nur um die Freiheit der Ukraine, sondern der ganzen Welt geht.

Was passiert in Russland, wenn die Ukraine gewinnt?

Viele glauben, dass das Land zerfällt. Ich glaube das nicht. Das russische Volk ist duldsam. Es gab keinen Aufstand gegen den Krieg und es wird auch nachher nichts Umstürzendes passieren. Aber auch auf die Ukraine kommen große Aufgaben zu. Nach einem Sieg ist die Gefahr des Nationalismus groß, die Ukraine hat ein großes Problem mit der Korruption und die Frage, wer nach Selenszkyi kommt. Die Ukraine braucht auf jeden Fall Hilfe beim Wiederaufbau, um eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu werden.

Viele sehen in Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine eine Revanche für den Untergang der Sowjetunion und es scheint, dass er von geradezu persönlichem Hass auf das Land angetrieben ist. Sehen Sie das auch so? 

Der Zerfall der Sowjetunion ist Putins persönliches Trauma, das hat er sogar selbst mehrfach so ausgedrückt. Diese Erfahrung teilen sehr viele in Russland und keineswegs nur die Menschen aus Putins Generation. Auch die junge Generation, die bereits mit dem Internet aufgewachsen ist und die Welt kennt, kennt diese Sehnsucht nach dem Russland von früher. Ich war viel unterwegs und habe mit zahlreichen, auch jüngeren Menschen gesprochen: Die Menschen wollen keinen Kapitalismus nach amerikanischem Muster, der sie ja nur betrogen hat, sondern einen menschlichen Sozialismus. Den Kapitalismus hat das russische Volk bis auf die Schicht, die sich bereichert hat, nie angenommen. Aber auch die junge Generation hat über ihre Eltern die sowjetische Erziehung noch mitbekommen. Putin steckt in jedem russischen Menschen drinnen.

Und Putins Hass auf die Ukraine …

Ohne die Ukraine gibt es kein Großrussland. Wenn Putin die Sowjetunion wieder errichten will, muss er die Ukraine zurückholen, denn sie bildet zusammen mit Kasachstan ihren Kern. Viele Beobachten halten einen Konflikt mit Kasachstan für möglich.

Der Patriarch Kyrill I. legitimiert den Angriffskrieg als Verteidigung gegen westliches „Teufelszeug“, sein Land befinde sich im Kampf gegen die „Weltherrscher der Finsternis“. Putin kommt die religiöse Legitimation des Überfalls gerade recht, aber glaubt die russische Bevölkerung diesen zynischen Unsinn? 

Die Kirche spielt eine wichtige Rolle und leider eine, die mit der Angst spielt. Sie segnet Waffen und Soldaten, rechtfertigt den Krieg mit absurden Argumenten. Patriarch Kyrill I. ist ein hochintelligenter Mensch und ich verstehe eigentlich überhaupt nicht, wie er zu solch extremen Positionen kommt. Putin hat der russische-orthodoxen Kirche jede Menge Privilegien zugeschanzt und die Priester damit praktisch zu Funktionären des Staates gemacht. Natürlich glauben nicht alle diesen Unsinn, aber eben doch sehr viele. Ich kann mich an ein Interview mit einer Frau erinnern, die Verwandte in Charkiw hat, deren Wohnung bei einem russischen Angriff zerstört wurde. Sie sagte, ja, das tue ihr leid, aber es sei ja kein Krieg gegen Ukraine, sondern gegen die USA.

Der Kommunismus mag zwar untergegangen sein, doch der „rote Mensch“ ist weiterhin da. Wer ist denn „der rote Mensch“, ist das ein eigener Menschenschlag, den es nur in Russland gibt? 

Der „rote Mensch“ ist in der Tat ein eigener Menschenschlag, der von den Bolschewiken herangezüchtet wurde. Aber es gibt ihn nicht nur in Russland, sondern in allen ehemaligen Ländern des ehemaligen Ostblocks, also in Rumänien, Berlin und so weiter. Der rote Mensch ist dazu erschaffen worden, dem Staat zu dienen, als Individuum zählt er nichts, sein höchstes Ziel ist es, für die Heimat zu sterben. So wurde es uns in der Schule beigebracht.  Heute erzählt mir meine Enkelin, dass sie in der Schule über die Frage schreiben, was Glück ist? Die Antworten sind ganz alltäglich: Einen Hund haben, gut kochen können. Zu meiner Schulzeit wären das noch undenkbare Antworten gewesen. Da hätte man geschrieben, man wünscht sich ein unbesiegbares Russland.

Sie waren selbst einmal Teil der „roten Idee“. Wie haben Sie den „roten Menschen“ in sich überwunden?

Natürlich war ich auch ein roter Mensch, ich bin sowjetisch erzogen worden. Meine Eltern waren Lehrer auf dem Land. Vater war überzeugter Kommunist, der Sozialismus war für ihn eine großartige Idee, die von Stalin pervertiert wurde. Meine Eltern waren sehr ehrliche, arbeitsame Menschen, die sich Tag und Nacht für die Sowjetunion aufgeopfert haben. Ich gehöre bereits einer anderen Generation an. Als ich in Afghanistan war und das Buch „Zinkjungen“ geschrieben habe, habe ich zu meinem Vater gesagt: Vater, unsere Soldaten sind Mörder! Er ist nur dagesessen und hat geweint.

Viele Ihrer Bücher handeln von starken Frauen. Ist der „rote Mensch“ ein dezidiert männliches Phänomen oder sind auch Frauen davon infiziert?

Meine Mutter war sicher auch ein roter Mensch, aber anders als der Vater. Es gab natürlich auch fanatische Frauen, aber insgesamt waren sie realistischer, bodenständiger, einfach, weil sie sich um die Kinder kümmern mussten. Man muss sich das heute vorstellen: Ältere Frauen haben ihr Leben lang nur geschuftet und wurden früher mit Naturalien bezahlt wurden. In Russland wurde ja erst mit Chruschtschow eine Minirente eingeführt. Ich kann mich erinnern, dass Oma den ganzen Tag mit einem 10 Rubelschein herumgelaufen ist und hat ihn sogar geküsst hat.

Putin hat die Seele des russischen Volkes offenbar besser verstanden als die Befürworter von Freiheit und Demokratie, die sich der Illusion hingegeben haben, dass der Totalitarismus einfach so verschwindet. Das klingt, als würden Sie sich und allen Demokraten eine Mitschuld an der fatalen Entwicklung geben. Was hat die Intelligenzija falsch gemacht oder versäumt?

 

In den 1990er Jahren waren wir, also die demokratischen Kräfte, wirklich naiv. Wir dachten, der Prozess der Demokratisierung und Freiheit ist nicht mehr zu stoppen. Dann wurden alle demokratischen Institutionen und Medien von einem Tag auf den anderen verboten.  Die Demokraten haben in den 1990 Jahre Denkmäler abgebaut, jetzt wird Stalin wieder aufs Podest gehoben.

In Ihrem Buch „Secondhand-Zeit“ beschreiben Sie das Ende der kommunistischen Utopie, die „das Himmelreich auf Erden errichten“ wollte und „ein Meer von Blut und Millionen vernichteter Menschenleben“ hinterließ, wie Sie es in Ihrer Nobelpreisvorlesung ausdrückten. Sie bezeichnen den russischen Totalitarismus als neuen Faschismus. Wie konnte es passieren, dass der „rote Mensch“ zum Faschisten wurde, der doch den Nazi-Faschismus besiegt hat?

An der Geschichte des roten Menschen, der roten Idee schreibe ich seit bald 40 Jahren. Ich habe Menschen getroffen, die Lenin und Stalin gesehen haben, Menschen, die in Afghanistan gekämpft haben, die in Tschernobyl starben.  Mein Buch „Secondhand Time“ handelt vom Untergang des Imperiums und vom Ende der Roten Person. Aber nichts ist zu Ende.  Der „rote Mensch“ hat die totalitäre Tradition des Kommunismus so sehr verinnerlicht, dass er sich Freiheit gar nicht vorstellen kann. Als ich mein Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ geschrieben habe, hat mich eine Frau gefragt: Haben sie überhaupt die Erlaubnis, dieses Buch zu schreiben und mich zu interviewen?

Russische Literatur und Kunst wird im Westen, aber vor allem in der Ukraine und den Staaten des ehemaligen Ostblocks, sehr kritisch betrachtet und teils offen abgelehnt. Sogar zu Dostojewski gehen mittlerweile einige auf Distanz, weil sie in ihm einen Propagandisten des Imperiums und der viel beschworenen russischen Seele sehen. Hat sich Ihr Blick auf ihn verändert?

Meine Bücher erfahren aktuell viel Interesse, aber um die russische Kultur und Literatur ist es still geworden. Ich verstehe, dass die Ukrainer momentan alles Russische ablehnen, aber das ist temporär. Auch die Deutschen schämten sich nach dem Krieg, Deutsche zu sein. Tschaikowski nicht mehr anhören, Dostojewski nie mehr lesen, weil sie imperialistisch gesonnenen waren – das geht vorbei. Man darf nicht vergessen, dass diese Künstler Produkte ihrer Zeit waren. Es ist momentan verständlich, aber ungerecht, dass russische Literatur aus der Schule verbannt wird. Aber das geht, wie gesagt, vorbei. Tschaikowski bleibt Tschaikowski.

Ist die vielbeschworene russische Seele und Kultur in Wahrheit eine Kultur des Krieges?

Russische Seele, deutsche Seele, japanische Seele – das sind Mythen. Ich weiß nicht, was das konkret sein soll? Putin und die Propaganda haben aus dem russischen Menschen etwas ganz anderes gemacht, als ich ihn kenne. Sie haben das Tier aus ihm herausgelassen und das hat mich wirklich erschreckt. Nichtsdestotrotz liebe ich den russischen Menschen.

Was erträumen Sie? 

Ich träume davon, nach Hause zurückzukehren. Und dass die Macht endlich in würdige Hände gelangt.

Und der Krieg? 

Die Ukraine muss gewinnen.

Interview: Heinrich Schwazer (Übersetzung: Natascha Malevich), aus „Neue Südtiroler Tageszeitung“

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