Die Nationalitätenfrage: Russlands Angriff auf die Ukraine versetzt eine gesamte Region in den Ausnahmezustand

Während sich die rumänische Minderheit in der Ukraine nicht instrumentalisieren lässt, befürchtet die Republik Moldau, dass in Chisinau bald russische Panzer rollen könnten.

Dreisprachiges Ortsschild von Tiraspol (moldauisch, russisch, ukrainisch) Von Julian Nyča - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0,

Von Jan Diedrichsen

In normalen Zeiten streiten sich die Geister in der Region zwischen Rumänien, Moldau und Ukraine, ob die dort lebenden Moldauer eine eigene ethnische Gruppe sind oder doch zur rumänischen Nationalität zählend. Diese Diskussionen erscheinen derzeit unweigerlich banal, – ich erinnere mich aber noch an hitzige Diskussionen unter entsprechenden Vertretern vor gar nicht so langer Zeit. Doch der Krieg hat solche „Minderheitenfeinheiten“ obsolet gemacht.

Die rumänische Minderheit in der Ukraine läuft aktuell Gefahr, buchstäblich zwischen die Fronten zu geraten. Es wird von 150.000-200.000 Angehörigen der rumänischen Minderheit in der Ukraine ausgegangen.

Die Befürchtung besteht, dass Moskau durch gezielte Desinformation Konflikte mit der rumänischen Minderheit in der Ukraine hervorzurufen sucht. In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Diskussionen und Streit zwischen Rumänien und der Ukraine wegen der Minderheitensituation in der Region gegeben.

Putin hat in seiner Rede zur Invasion – seine berühmte „Geschichtsvorlesung“ – darauf verwiesen, dass Stalin bei der „Zuschneidung“ der Ukraine dem Land Teile einverleibt hatte, die früher zu Rumänien gehörten. Doch es ist nicht gelungen, die Nationalitätenfrage zu instrumentalisieren und einen Keil zwischen Kyiv und der rumänischen Minderheit zu treiben. Präsident Johannis,  Staatspräsident Rumäniens (und Angehöriger der deutschen Minderheit des Landes), hat sich in den ersten Stunden des russischen Angriffs gemeinsam mit den EU-Staaten an die Seite der Ukraine gestellt.

In der Republik Moldau ist die Lage noch angespannter. Eingekeilt zwischen der Ukraine und dem NATO-Mitglied Rumänien beobachtet die verarmte ehemalige Sowjetrepublik, mit 2,5 Millionen Einwohnern, die russischen Panzer, die über ihr Nachbarland rollen, mit einer düsteren Vorahnung.

Wie die Ukraine hat auch die Republik Moldau seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 um ihre Unabhängigkeit gerungen, und wie die Ukraine verfügt sie über eine abtrünnige Region mit russischssprachigen Bewohnern, die einen Bürgerkrieg gegen den Staat geführt hat: Transnistrien. Die Enklave wird von rund 1.000 bis 2.000 russischen „Friedenstruppen“ unterstützt, die 1992, kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs, einrückten. Die Republik Moldau hat wiederholt den Abzug der russischen Truppen gefordert. Diese „Friedenstruppen“ trugen am Donnerstag zum Beschuss der südlichen Flanke des russischen Angriffs auf die Ukraine bei.

Zur großen Verärgerung Moskaus wählte die Republik Moldau im vergangenen Juli zum ersten Mal eine deutliche pro-europäische Mehrheit ins Parlament.
Putin hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er das Auseinanderbrechen der Sowjetunion als die große historische Tragödie des letzten Jahrhunderts betrachtet. Und dass er danach strebt, das über die nun unabhängigen Staaten verstreute russische Volk „zu vereinen“.

Was läge also näher, als durch das befreundete Transnistrien nach Süden zu marschieren? Damit würde Putin die Eskalationsspirale weiterdrehen – aber keinen Krieg mit der NATO riskieren, da Moldau kein Mitglied ist. Das russische Groß-Reich wäre durch eine Vereinigung von Transnistrien und Moldawien ein Stück größer. Nebengewinn: die pro-europäische Regierung in Chisinau wäre entmachtet.

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