Brasilien: Agrar-Lobby und die Bolsonaro-Justiz vereint gegen Rechte indigener Völker

Von Wolfgang Mayr

So ungeniert offen war die Lobby der Großgrundbesitzer bisher nicht. Möglich macht dies der rechtsradikale Präsident Bolsonaro und sein kaum verhüllter Hass auf die Amazonas-Bevölkerung. Die brasilianischen Agrar-Junker fordern den Staat auf, aus der Konvention zum Schutz indigener Rechte auszutreten. Diese internationale Konvention schränkt ihrer Ansicht nach die nationale Souveränität ein und ist ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung.

Im Visier der mächtigen Agrarier sind die kleinbäuerlichen Gemeinden und die indigenenTerritorien. Deshalb soll Präsident Bolsonaro den Austritt des Landes aus der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in die Wege leiten. Nach Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Brasilien hatte die Konvention 2002 unterschrieben hatte, könnte also bis zum 5. September 2022 austreten.

Der parteiübergreifende Zusammenschluss im Kongress, die Frente Parlamentar da Agropecuária FPA, erklärte in seinem Dokument, die Konvention beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen ‒ kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten ist“. Ähnlich formulierte es Präsident Bolsonaro. Bereits bei seinem Amtsantritt kündigte er den brasilianischen Austritt an und teilte seine Pläne auch der UNO mit.

In einem ersten Schritt ließ Bolsonaro rechtlich prüfen, ob die Rechtsgültigkeit der ILO – das besagt ein Urteil des Obersten Gerichtshofes – tatsächlich auch auf die Quilombolas (Nachkommen der Sklaverei entflohener Schwarzen) anwendbar ist. In einem zweiten Schritt teilte der Präsident mit, dass er mit den indigenen Völkern nicht mehr auf Augenhöhe verhandeln will.

Im Wahlkampf 2017 ließ Bolsonaro die BürgerInnen wissen, dass er keinen Zentimeter mehr als indigenes Schutzgebiet ausweisen, demarkieren wird. Tatsächlich fanden auch keine Demarkierungen mehr statt, obwohl die Verfassung die Ausweisung von indigenen Gebietenals rechtlich geschützte Territorien (Terra Indígena) vorsieht.

Laut dem Obersten Gerichtshof stehen internationale, von Brasilien unterschriebene Rechtsverträge unterhalb der Rechtsgültigkeit der Verfassung des Landes, aber oberhalb jedweden Gesetzes.

Deshalb können mit der ILO-Konvention 169 die verschidenen anstehenden „Landraubgesetze“ verhindert werden. Die Konvention sieht nämlich die garantierte freie, vorherige und informative Konsultation mit den Betroffenen vor, die zustimmen müssen.

Der Artikel 6 der Konvention ist unmissverständlich, Konsultation und Zustimmung sind die rechtliche Hürde. Laut den Organisationen der indigenen Völker, der UN-Gremien und der ILO schreibt die Konvention die freie, vorherige und informierte Zustimmung vor, im Einklang mit der UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker, insbesondere, wenn ihre Territorien und Lebensgrundlagen betroffen sind oder ein Projekt ihre Umsiedlung vorsieht.

Nach Meinung von Indigenen, internationalen Rechtsfachleuten und Menschenrechtsorganisationen sind Konsultation, Partizipation und Zustimmung gleichermaßen Grundbedingung ihres Rechtsschutzes. Ein Projekt kann demnach nicht durchgeführt werden, wenn die Betroffenen ihre Zustimmung nicht geben. Brasiliens Rechtssprechung hat dies aber  noch nicht explizit anerkannt.

Zögernder Gerichtshof

Das Oberste Bundesgericht soll über die Anerkennung indigener Landrechte entscheiden. Die zur Entscheidung anstehende „Stichtagsregelung“ (Marco Temporal) sieht vor, dass nur jene Gebiete als indigene Territorien anerkannt werden sollen, die bereits vor dem 5. Oktober 1988 – mit dem Inkrafttreten der Verfassung – von Indigenen bewohnt wurden. Alle Gebiete, die seither zurückerkämpft wurden, sollen deshalb nicht mehr als indigene Territorien gelten. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs sollte am 25.8. getroffen werden, wurde jedoch  verschoben. Der Verband „Articulação dos Povos Indígenas do Brasil“ 

betont in einem offenen Brief an den Bundesgerichtshofs die Wichtigkeit des „Marco Temporal“ für das Leben der indigenen Völker in zehn Botschaften:

1) Die Geschichte der indigenen Völker Brasiliens beginnt weder im Jahr 1500 noch im Jahr 1988.

Die indigenen Völker kamen in dieses Land, noch bevor der Begriff der Zeit überhaupt erfunden wurde, und wir sind die Nachfahren dieser Menschen, die als erste ihren Fuß auf das Land setzen, das ihr Brasilien nennt. Eure Uhren und Kalender können weder unsere Zeit bemessen oder bestimmen noch können sie unsere Vorfahren ignorieren.

2) Unser Land ist unser Leben und keine Profitquelle.

Während Grundbesitzer, illegale Landbesetzer und Ausbeuter das Land an sich gerissen und zerstört haben, pflegen wir, die indigenen Völker, eine tiefe, spirituelle Beziehung zu unserem Land, die sich über Generationen gehalten hat. Ohne Land gibt es für uns kein Leben. Wir erforschen und untersuchen unsere Gebiete nicht, um den maximalen Profit zu erzielen, sondern um uns zu ernähren, um unsere Kultur zu erhalten und unsere Traditionen und unsere Spiritualität zu bewahren.

3) Wir kümmern uns um die Wälder, und die ganze Welt kann froh darüber sein.

Mehr als einmal wurden die indigenen Völker als die besten Hüter*innen der Wälder anerkannt. In unseren Territorien bleibt die Natur intakt. In den indigenen Gebieten gibt es intakte Wälder, sauberes Wasser und eine lebendige Tierwelt. Wie gut und wichtig das für alle ist, zeigen die heutigen Klima- und Umweltkrisen, die das Überleben der Menschheit bedrohen.

4) Unsere Vielfalt und die Verbindung mit unseren Vorfahren vereinen uns.

Die Feinde der indigenen Völker versuchen um jeden Preis, künstliche Gräben zwischen uns aufzubauen und uns zu spalten. Sie wollen anscheinend nicht begreifen, dass das Erbe unserer Vorfahren stärker und mächtiger ist als jeder Versuch, uns auseinanderzubringen.

5) Die Grundbesitzer beanspruchen den größten Teil des Landes und zerstören ihn gnadenlos!

Das Argument, es gebe „zu viel Land für die paar Indianer“, wurde bereits mehrfach widerlegt. Der größte Teil der Flächen in Brasilien wird bereits landwirtschaftlich genutzt. Ein kleiner Teil davon ist indigenes Land, und was davon als indigenes Gebiet anerkannt wurde, ist in einem hervorragenden Zustand!

6) Unser Kampf ist auch ein Kampf für die Zukunft der Menschheit.

Die Kultur der indigenen Völker pflegt die Verschiedenheit und das Willkommenheißen. Wir kämpfen für den Erhalt der Umwelt und der biologischen Vielfalt. Wir sind die Schützer*innen der Wälder, und wir sind gern bereit, unser Wissen zu teilen ‑ zum Wohle aller Menschen.

7) Seit 521 Jahren kämpft die indigene Bevölkerung um ihr Leben. Offensichtlich ist hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung.

Seit die Europäer in unser Land eindrangen, müssen wir tagtäglich um unser Überleben kämpfen: gegen eingeschleppte Krankheiten wie COVID-19, an der mehr als 1.100 Menschen aus unserer Familie starben, gegen Völkermord, gegen Übergriffe. Auch heute noch gibt es viele Menschen, für die unser Leben keinen Pfifferling wert ist. Das muss ein Ende haben, sofort!

8) Wir haben ein Konzept entwickelt, das die gesamte Welt betrifft, und wir wollen, dass die ganze Welt davon erfährt!

Wir haben über Jahrtausende unsere eigenen Produktionstechnologien entwickelt. Daher können wir heute mit freiem Blick über eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten nachdenken, die auf einem guten Leben und dem Schutz der Erde beruht und das freie Zusammenleben der Völker ermöglicht. In unserem Gesellschaftskonzept wird Nahrung ohne Gift und ohne Raubbau an der Natur produziert. Unsere Welt braucht ein solches Konzept, um uns vor der Zerstörung zu retten!

9) Wir sind hier, und hier werden wir bleiben.

Wir haben die Kolonisierung überlebt, den Völkermord und die Krankheiten. Unser Volk ist widerstandsfähig, wir haben immer einen Weg gefunden, um zu überleben und uns zu schützen, selbst unter den schlimmsten Bedingungen. Wir werden am Leben bleiben und für unsere Rechte kämpfen, und wir hoffen, dass die Welt begreift, dass unser Leben wichtig ist. Die indigenen Völker fordern ein erfülltes und friedliches Leben, denn das ist es, was wir wollen und brauchen.

10) Brasilien ist ein indigenes Land, die Mutter Brasilien ist indigen!

Seit 521 Jahren wird versucht, die indigene Abstammung dieses Landes, das sie Brasilien nennen, auszulöschen. Wir haben dieses Land als allererste betreten. Wir pflegen den Boden, halten die Wälder in Ordnung und verehren die jahrtausendealten Vorfahren. Wir sind viele, wir sind stark und wir sind stolz auf unsere Geschichte, und niemand wird uns das je nehmen können!

Quelle: Nachrichtenpool Lateinamerika; GfbV

Indigene Landrechte in Brasilien (gfbv.de)

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