23-08-2022
AutorInnen der zivilen Wende
Ukrainische SchriftstellerInnen und ihr Werben für Demokratie, Mehrsprachigkeit, Multinationalität und Unabhängigkeit

Von Wolfgang Mayr
Trotz des russischen Krieges in ihrem Land „bekennen“ sich die ukrainischen SchriftstellerInnen zum multiethnischen Charakter ihrer Nation. Viele von ihnen schreiben auf Russisch, anderen wechselten aus Protest auf Ukrainisch über. Das Forum GeschichtederGegenwart widmete der Nation der Dichter*innen eine ausführliche Abhandlung: „Was uns ukrainische Lyriker*innen über Krieg und Sprache lehren“, passend zum 31. Geburtstag der unabhängigen Ukraine.
Eine Unabhängigkeit, die seit Ende Februar in Gefahr ist. Eine Unabhängigkeit, die die ukrainische Mehrsprachigkeit garantiert. Darauf verweist der russischschreibende Autor Sergej Gerassimow in seinem „Feuer-Panorama“. Er zitiert den meist russisch sprechenden jüdischstämmigen Präsidenten Selenzki, bringt das Beispiel eines Mitglieds des umstrittenen Asow-Regiments, der auf Russisch über die Lage in Mariupol berichtet hatte. Das ist die Ukraine, betont Gerassimow.
Amelia Glaser würdigt in GeschichtederGegenwart das staatsbürgerliche und sprachenübergreifende Engagement der ukrainischen Dichterinnen und Dichter seit 2014: „Es ist die Geschichte einer Generation, die darum kämpft, eine Identität zu entwerfen, die sich sowohl von den zunehmend autoritären Strömungen im benachbarten Russland als auch vom polarisierenden Nationalismus Osteuropas in den 1990er Jahren absetzt,“ schreibt Glaser über die Autor*innen der „zivilen Wende“ in der Ukraine. Glaser meint damit die Abkehr von einer ethnisch definierten Vorstellung von Nation und die Hinwendung zu einer durch Staatsbürgerschaft definierten Identität.
„Wir befinden uns seit fünf Jahren im Krieg und doch haben wir in diesen fünf Jahren eine Freiheit erlebt wie nie zuvor“, zitiert Glaser eine der Autorinnen und ergänzt: „Im Frühjahr 2022 blickte die ganze Welt auf die Ukraine, während sie bewies, worauf es ankommt: Auf die Fähigkeit, die eigene politische Führung zu wählen, die historische Wahrheit zu verteidigen, auf eine Zivilgesellschaft, die mehrere Sprachen, Geschichten und Religionen in sich aufzunehmen vermag. Die ukrainischen Freiwilligen verteidigten das Land gegen die größte Armee Europas, und ihre Dichter*innen fassten diesen Kampf in Worte“.
Die Ukraine – nicht nur ihre Dichter*innen, sondern das ganze Land – hatte mit ihrem unerwarteten Widerstand zur Verteidigung ihrer Demokratie beigetragen. Die AutorInnen auf ihre Art und Weise. Seit 2014 erlebte die Ukraine eine Art poetische Explosion. Online-Zeitschriften und Lyrikfestivals führten zu einem literarischen Frühling, zu einer Wiedergeburt der ukrainischen Literatur. Die ukrainischen Dichterinnen und Dichter veröffentlichten in den sozialen Medien ihre Werke vorab, um ihre Gedichte gegenseitig zu kommentieren und zu übersetzen.
Darunter Iya Kiva, Natalia Beltchenko, Boris Chersonskij, Ljudmila Chersonskij¸Stanislav Belsky oder Serhij Zhadan, um nur einige zu nennen. Bekannter im westlichen Europa ist Katja Petrowskaja. Gemeinsam ist den ukrainischen AutorInnen vielfach der russisch-ukrainisch-jüdische familiäre Hintergrund. Nicht zu vergessen Andrij Kurkow und Sergej Gerassimow.
Sie agieren literarisch im Kampf zwischen Russlands Ideologie der Macht vergangenerGröße und der Möglichkeit einer bürgerlichen Demokratie, die sich in jungen ukrainischen Staat abzeichnet. Ihre Poesie entwickelte sich als Instrument zur Artikulation kollektiver Werte, inmitten der unerbittlichen Luftangriffe, der schrecklichen Angriffe auf die Städte Mariupol, Butscha und Irpin, inmitten der russischen Kriegsverbrechen.
Vor 31 Jahren erklärte sich die von der russisch dominierten Sowjetunion gegängelte und unterdrückte Ukraine unabhängig. Ihre demokratische Selbständigkeit ist seit Ende Februar in höchster Gefahr. Der russische Krieg wird in der westlichen Öffentlichkeit achselzuckend zur Kenntnis genommen. Die Solidarität schrumpft.
In Italien schickt sich eine radikale Rechte zwischen Fratelli d´Italia, Lega und Forza Italia an, die Parlamentswahlen am 25. September zu gewinnen. Eine Rechte, die sich dem russischen Präsidenten Putin nahefühlt. Näher auf alle Fälle als der Ukraine. Wie Rechte in anderen EU-Staaten auch.
In Österreich drängen große Teile der konservativen ÖVP und die rechtsradikale FPÖ auf eine Aussetzung der antirussischen EU-Sanktionen. So drängte der österreichische Bundeskanzler von der ÖVP, Karl Nehammer, Putin seinen Besuch auf. Nehammer lud den Putin-Alliierten Viktor Orban nach Wien ein. Die Österreicher behandeln die russischen Oligarchen als gerne gesehene Gäste in der Alpenrepublik. Der rechte ungarische Ministerpräsident Orban ist schon seit einiger Zeit Fürsprecher für seinen ideologischen Freund Putin in der EU. Geht der Ukraine die Unterstützung in ihrem Widerstand gegen die kriegsverbrecherische russische Aggression verloren?
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