20-06-2022
Anerkennung des Völkermordes an den Jesiden
Hakeema Taha berichtete eindrücklich als Überlebende aus Kocho im Deutschen Bundestag. Gemeinsam mit mehreren Sachverständigen machte sie unmissverständlich deutlich, was in den Sommermonaten 2014 im Sinjar geschah: ein Völkermord. Der Bundestag muss endlich handeln.
Von Jan Diedrichsen
Heute hat sich der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages mit der Forderung nach der Anerkennung des Völkermordes an den Jesiden befasst.
Die dreistündige Anhörung kann hier nachgesehen werden.
Die vorliegenden schriftlichen Berichte der Expertinnen und Experten sind hier nachzulesen.
Hakeema Taha berichtete eindrücklich als Überlebende aus Kocho (siehe unten). Gemeinsam mit mehreren Sachverständigen machte sie unmissverständlich deutlich, was in den Sommermonaten 2014 im Sinjar geschah: ein Völkermord.
Es gibt einen derweil zu denken, dass es einer Petition bedarf, um das Parlament in Berlin dazu zu bewegen, sich für die Anerkennung des Völkermordes an den Jesiden auszusprechen, der nun beinah ein Jahrzehnt zurückliegt. Eine Unterschriftenaktion auf den Straßen der Republik und im Internet, begleitet von verschiedenen Menschenrechtsaktivistinnen, hat es vor einigen Monaten geschafft. Es war eine am Ende knappe und von technischen Problemen des Bundestages begleitete Aktion. Die nötigen 50.000 Unterschriften wurden jedoch geschafft.
Aber warum sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht selbst aktiv geworden? Warum bedurfte es „den Druck der Straße“, bevor etwas geschah? Hier wäre eine detaillierte Ursachenforschung interessant. Das Zaudern verwundert. Nicht zuletzt, weil die deutsche Strafjustiz mit der Anwendung des Weltrechts ein wichtiges Zeichen gesetzt hat. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt führt seit April 2020 den weltweit ersten Prozess wegen Völkermordes an Jesiden. Nun muss die Politik – der Deutsche Bundestag – unverzüglich nachziehen.
Deutschland, das bereits bei der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern und im Umgang mit dem Völkermord an den Herero und Nama wenig souverän agierte, hätte schon lange aktiv werden müssen. Der Menschenrechtsausschuss hat den Anfang gemacht, nun ist das Plenum gefragt.
Der Genozid
In den Sommermonaten 2014 wurden die jesidischen und christlichen Gemeinschaften von Ninive und Sinjar – sowie eine Vielzahl anderer Personen, die verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen im Irak angehören – belagert. Der sogenannte Islamische Staat (ISIS) rückte in Irak und Syrien vor. Unter der Androhung von Tod, Versklavung und Zwangskonvertierung verließen Hunderttausende ihre Häuser. Es wird angenommen, dass innerhalb weniger Tage fast 10 000 Jesiden getötet wurden. Tausende von Frauen und Mädchen wurden verschleppt und versklavt. Die Gewalt erfasste das gesamte Gebiet von der Großstadt Mosul bis zu den kleinen Dörfern in der Umgebung von Sinjar.
Für den ISIS gelten die Jesiden als „Gottlose“ und „Teufelsanbeter“. Die ISIS-Kämpfer waren angewiesen, sie gefangen zu nehmen oder auf der Stelle zu ermorden. Mehr als 200 000 Menschen flohen. Einigen gelang es, in die Autonome Region Kurdistan, nach Syrien oder in die Türkei zu fliehen, aber bis zu 50 000 Menschen saßen auf dem Berg Sinjar fest.
Am 7. August 2014 genehmigte US-Präsident Barack Obama Luftangriffe gegen ISIS in Sinjar . Kurz darauf warfen US-Flugzeuge Lebensmittel und Wasser für die Zehntausenden auf dem Berg Eingeschlossenen ab. Mit Hilfe der US-Luftangriffe gelang es den kurdischen Kräften, einen Fluchtweg freizukämpfen. Berichten zufolge starben jedoch Hunderte während der Belagerung an Hunger, Durst und Erschöpfung. Kurdische Kräfte befreiten Sinjar später im November 2015.
Sowohl ein Ende 2014 veröffentlichter Bericht von Amnesty International als auch der Bericht des Simon-Skjodt-Zentrums beschreiben die systematische Ermordung und Entführung:
In Kocho wurden mehr als tausend Jesiden zusammengetrieben und ihrer Wertsachen beraubt. Sie wurden zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt: Männer sowie Frauen und Kinder. Überlebende beschreiben, wie die Männer zu Massengräbern gebracht wurden, wo ISIS-Schergen sie filmte, bevor sie das Feuer eröffneten. In der Zwischenzeit wurden junge Frauen und Mütter mit Kindern von älteren Frauen getrennt und dann entführt. Etwa 400 Männer wurden getötet; Hunderte von Frauen wurden entführt und versklavt.
Überlebende des Massakers in Qiniyeh berichten ähnliche Gräueltaten. Dem Amnesty-Bericht zufolge wurden Männer und Jungen über 12 Jahren von den Frauen getrennt, bevor ISIS sie in Gräben am Rande der Stadt brachte. Als die Schießerei begann, überlebten einige junge Männer, indem sie vortäuschten, getötet worden zu sein, und später entkamen. Frauen wurden als Sexsklavinnen für ISIS-Kämpfer verschleppt und gezwungen, zum Islam zu konvertieren.
Obwohl die Massaker in Kocho und Qiniyeh die größten bekannten sind, war der Genozid des ISIS nicht auf diese Dörfer beschränkt. Es wurden zahlreiche Massengräber entdeckt.
Eine UN-Untersuchung der Verbrechen enthält zahlreiche erschütternde Berichte von yezidischen Frauen und Mädchen, die Sklaverei, Missbrauch und Vergewaltigung durch ISIS-Kämpfer beschreiben. Die Überlebenden beschreiben ausgeklügelte und systematische Sklavenbörsen, bei denen versklavte Frauen oft mehrmals verkauft und wiederholt vergewaltigt, geschlagen, bedroht und gewaltsam gezwungen wurden. Die UNO geht davon aus, dass ISIS diese sexuelle Gewalt als Mittel zum Völkermord weiterhin einsetzt. Bis heute werden Tausende Jesiden vermisst, darunter rund 3.000 Frauen.
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