04-07-2022
Am deutschen Wesen …
Die verqueren Ratschläge aus Deutschland an die Ukraine

Von Wolfgang May
Namhafte Intellektuelle empfehlen der Ukraine, ihren militärischen Widerstand gegen die russische Invasion einzustellen. Sie plädieren in gleich zwei offenen Briefen für eine diplomatische Großoffensive. Laut angedacht wird die offizielle Abtretung der schon russisch besetzten Ostukraine und des Korridors zur bereits annektierten Krim.
Dafür stark machte sich auch der ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger. Handelt es sich doch nur um ein paar Quadratkilometer, warb Kissinger für seinen Vorschlag. Er erinnerte auch daran, dass die Interessen der Ukraine nicht deckungsgleich sind mit westlichen Interessen. Der Westen will Frieden, Erdgas und Erdöl, die Ukraine ihren staatlichen Bestand erhalten.
So kritisiert die Unternehmerin Diana Kinnert die angebliche übertriebene Parteinahme für die Ukraine, die mit westlichen Werten nicht mehr verträglich ist. Die Solidarität mit einem überfallenen Land entspricht nicht westlichen Werten? Kinnert machte auch noch einen weitverbreiteten antirussischen Rassismus.
Um vieles schräger sind die Wortmeldungen des Soziologen Harald Welzer. Er weiß, worüber er spricht, denn er forscht über die deutsche Tätergeneration, begründet Welzer seine Belehrungen an die Ukraine: „Wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung, die durch die Generationen durchgezogen hat, und da ist möglicherweise in jeder Familie derjenigen der 45 Prozent gegen die Lieferung eine ganz präsente Kriegserfahrung in der Familie selber drin“.
Nur, diese Deutschen mit Kriegserfahrung waren Täter, Massenschlächter, die Europa überfallen haben. Die Ukrainer sind nirgendwo einmarschiert, sondern sie sind Opfer eines brutalen Überfalls. Die Ukrainer brauchen keinen Geschichtsunterricht, spottet der israelisch-deutsche Pädagoge Meron Mendel in der Zeit.
Die Forschung von Welzer ergab, dass die Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg begonnen haben, sie nachhaltig traumatisiert hat. Sie haben es aber laut Welzer geschafft, aus der Niederlage gestärkt hervorzugehen. Legt Welzer also der Ukraine nahe, sich zu ergeben, um Kriegstraumata zu vermeiden, fragt Mendel: „Bietet er an, in der Niederlage eine Befreiung zu sehen? Vergleicht er die überfallene Ukraine mit Nazideutschland?“
Welzer und seine briefeschreibenden Mit-Intellektuellen fordern in zwei offenen Briefen den Westen zu Verhandlungen auf, nicht den russischen Kriegspräsidenten Putin. Die Interessen der Ukraine spielen in den intellektuellen Gedankengängen keine Rolle. Bereits die Vorfahren dieser BriefeschreiberInnen scherten sich wenig um ukrainische Belange.
Der erste Brief, erschienen in der Zeitschrift Emma, strotzt vor deutschem Egoismus und Ukrainefeindlichkeit. In ihrem zweiten Brief, veröffentlicht von der Zeit, geben sich die Intellektuellen empathischer und lehnen vorsichtshalber einen Diktatfrieden Putins ab. Die „Frankfurter Rundschau“ machte in den Briefen falschen Grundannahmen aus: „Die erste ist der Glaube, dass ein bestimmtes „richtiges“ Verhalten der Ukraine oder des Westens Putin zum Verhandeln bringt. Die zweite falsche Annahme ist die teils explizite Zuschreibung der Verantwortung für das Leid der Ukraine selbst. Ferner übernehmen beide Briefe den imperialen Gedanken der Putin’schen Politik, wenn sie andeuten, dass Großmächte über das Schicksal der Ukraine bestimmen sollen“.
Die BriefschreiberInnen biedern sich beim Russen-Diktator an, indem sie der EU und Deutschland vorwerfen, Russland nicht als gleichwertigen Partner empfunden zu haben. Rechtfertigt das einen Krieg? Ist das gar ein Plädoyer für eine freiwillige Geiselhaft? Die „Frankfurter Rundschau“ wirft den Brief-InitiatorInnen vor, Täter und Opfer gleichzusetzen, weil beide Seiten zur Eskalation beigetragen hätten: „Aber einer schlägt zu. Einer tötet. Und hier ist seit 2015 klar, wer das ist, wer fremdes Territorium besetzt, Minderheiten unterdrückt und die Unabhängigkeit des Nachbarn zu untergraben versucht. Im Grunde ist das seit der Orangen Revolution klar, seit 2004,“ rückt die FR das Bild zurecht.
Das Zentrum für Liberale Moderne fordert angesichts der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine die Bundesregierung auf, die Verantwortlichen für Angriffskrieg und Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen.
Der laufende Völkermord, so charakterisiert das Zentrum das aktuelle Kriegsgeschehen, muss gestoppt werden, ganz im Sinne des „Nie wieder“. In der Ukraine haben Wehrmacht und SS während des 2. Weltkriegs die jüdische Bevölkerung ausgerottet und weitere geschätzte sieben bis 10 Millionen UkrainerInnen ermordet.
Während sich Walzer und seine MitstreiterInnen gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, wirbt das Zentrum für Liberale Moderne für schwere Waffen, um den russischen Vernichtungskrieg stoppen zu können. Außerdem sollten angesichts der enthemmten Gewalt der russischen Besatzungsmacht „territoriale Kompromisse“ niemals Gegenstand von Verhandlungen werden. „Es wäre ein Sargnagel für das Völkerrecht und die europäische Sicherheitsordnung, wenn eine gewaltsame Grenzverschiebung als Folge eines Aggressionskriegs und massive Kriegsverbrechen de facto hingenommen würden“.
Laut der rechtswissenschaftliche Studie des Wallenberg Centre for Human Rights und des New Lines Institute for Strategy & Policy trägt die russische Kriegführung die Merkmale eines intendierten Völkermords trägt:
- Vernichtungsdrohungen und systematische Aufhetzung zu Gewaltakten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung durch russische Amtsträger und Staatsmedien
- Negierung einer eigenständigen nationalen Identität der Ukraine
- Dehumanisierung und Dämonisierung der ukrainischen Nation („Faschisten“, „Abschaum“, „Bestien“ etc)
- Massentötung (Exekution) von Zivilisten
- Gezielte Angriffe gegen Schutzräume (etwa im Theater von Mariupol) und Fluchtrouten der Zivilbevölkerung
- Bombardierung reiner Wohnquartiere mit schwerer Artillerie, Raketen und Luftangriffen
- Gezielte Zerstörung lebenserhaltender ziviler Infrastrukturen (Krankenhäuser, Energie- und Wasserversorgung
- Abschneiden humanitärer Korridore belagerter Städte
- Angriffe auf die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung
- Vielfache straflose Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt
- Deportation von mehr als einer Million Ukrainer/innen aus den besetzten Gebieten nach Russland, darunter ca. 200.000 Kinder (manche Angaben liegen noch weit höher)
- Systematische Verbannung der ukrainischen Kultur und Sprache in den von Russland besetzten Gebieten („Deukrainisierung“).
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