07-04-2024
Menschenrechtler:innen befürchten nach dem Terroranschlag in Moskau eine weitere Faschisierung Russlands
Ende März diskutierten Maria Vyushkova und Nadezhda Nizovkina über die Folgen des Terroranschlages in Moskau. Die in den USA lebende Burjatin Vyushkova ist Forscherin und in der antikolonialistischen Bewegung aktiv, die Anwältin Nizovkina lebt in Burjatien und engagiert sich in der Anti-Kriegsbewegung. Ihre Diskussion übersetzte und redigierte Tjan Zaotschnahja.
Maria Vyushkova: Wir werden über die Folgen des Terroranschlags und über die Ungereimtheiten bei den Ermittlungen sprechen. Auch über die Folgen, die wir in Form der endgültigen Faschisierung des Putin-Regimes sehen werden, in Form von wachsender Fremdenfeindlichkeit, Migrantenfeindlichkeit, nicht nur gegenüber Menschen, die aus Zentralasien stammen.
Nadezhda Nizovkina: Ich hatte Angst. Jetzt fürchte mich um mein eigenes Leben. Ich habe keine Sekunde lang geglaubt, dass dieser Anschlag von Ukrainern, Tadschiken oder Igil verübt wurde. Ich zweifle nicht daran, dass der Terroranschlag von Putins Sonderdiensten organisiert wurde.
MV: Erschreckend, wie die Sicherheitskräfte gegen die mutmaßlichen Attentäter vorgingen …
NN: Ja, Angehörige der Sicherheitsdienste waren an der Inhaftierung und Folterung der Gefangenen beteiligt. Es reicht nicht aus, jemanden zum Terroristen zu erklären. Selbst wenn es sich bei den Festgenommenen um Tadschiken, Migranten handelt. Unsere Gesellschaft hegt traditionell starke fremdenfeindliche Gefühle gegenüber Migranten. Es gibt keinen Grund, den Tod und das Leiden unschuldiger Crokusbesucher*innen mit ihnen in Verbindung zu bringen.
MV: Spüren Migranten den anti-migrantischen Hass?
NN: Die Unterdrückung von Migrantenvierteln hat bereits begonnen. Diese wird sich natürlich nicht nur auf Tadschiken und Migranten beschränken, sondern auch russische Bürger*innen treffen, die das Pech haben, aus dem Kaukasus zu stammen.
MV: Trotz des IS-Bekennerschreibens machte Putin die Ukraine für den Anschlag verantwortlich.
NN: Diese 144 tote Zivilist:innen sind in Wirklichkeit Opfer des Krieges gegen die Ukraine, während sie aber keine Opfer der Ukrainer sind. Mir ist klar, dass die Folgen schwerwiegender sein werden, dass sie weitreichender sein werden.
MV: Das heißt?
NN: Putin kam vor 25 Jahren auf einer Welle von Terroranschlägen an die Macht, mit einer Anti-Terror-Rhetorik, die auf die Einschüchterung seiner eigenen Bevölkerung, seiner eigenen Bürger*innen beruhte.
MV: Er hielt daran fest.
NN: Ja, 2020 folgten weitere Verfassungsänderungen. Versteckt hinter Quarantäne-Maßnahmen, dem Verbot öffentlicher Massenveranstaltungen, Zugangsverbot für Zuhörer*innen zu Gerichtsverhandlungen in der Folge der Pandemie. Und jetzt wieder: Verbot von öffentlichen Massenveranstaltungen usw. Ein Szenario, das sich immer wieder wiederholt. … wenn sich etwas immer wieder wiederholt, ist es höchstwahrscheinlich derselbe Mechanismus ist, der von denselben Kräften in Gang gesetzt wird.
MV: Nadezhda, es wurden bereits Personen zur Rechenschaft gezogen, weil sie sich in irgendeiner Weise „unangemessen“ zu dem Ereignis geäußert haben.
NN: Die Risiken sind für mich jetzt größer geworden. Und ich betone noch einmal, dass ich mehr Angst davor habe, getötet zu werden, als vor irgendeiner Art von Strafverfolgung. Dennoch glaube ich, dass wir darüber reden müssen. Wenn wir nicht darüber reden, werden wir das Blut derjenigen vergießen, die gefoltert werden, und all derer, die in Crocus gestorben sind. Ich betone noch einmal, dass auch sie Geiseln des Systems sind.
MV: Reden, aufklären?
NN: Um dies zu verhindern, und nicht nur eine Reihe künftiger Terroranschläge, sondern auch einen zügellosen Faschismus, müssen wir darüber sprechen. Ich befürchte ernsthaft, dass wir vor einer großen ethnischen Säuberung stehen. Nicht-Russen und Nicht-Europäer werden Opfer dieser Säuberung werden.
MV: Das Regime beschuldigt bei Krisen die „Anderen“?
NN: Wenn es einen Krieg gibt, sind die Burjaten schuld. Wenn es Terrorismus gibt, dann sind Tschetschenen oder Tadschiken schuld. Wir müssen darüber reden, um ein Blutvergießen und ein weiteres ernstes Problem zu verhindern – die Entmenschlichung unserer Gesetzgebung und unserer Strafverfolgungspraxis, d.h. die Legalisierung der Folter.
MV: Legalisierung der Folter bedeutet?
NN: Wenn es möglich ist, mutmaßliche Terroristen zu foltern, dann wird diese Praxis auf alle gewöhnlichen Polizeidienststellen, auf alle gewöhnlichen Straf- und sogar Verwaltungsfälle Anwendung finden. Darüber hinaus werden sie auch für politische Gefangene gelten. Die Hauptsache ist, die Gesellschaft daran zu gewöhnen (gewöhnen zu lassen).
MV: Verwundert nicht, Russland ist nicht mehr Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention …
NN: Putin erließ 2023 ein Gesetz, mit dem Russland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausstieg. Danach schlug man in Russland Alarm wegen der Wiedereinführung der Todesstrafe.
Und nach dem Terroranschlag in Crokus wird nun wieder über die Todesstrafe gesprochen. Wenn sie eingeführt wird, dann unter dem Vorwand, dass sie gegen Terroristen verhängt werden soll.
MV: Sie wird dort nicht halt machen?
NN: Nein, die Todestrafe wird nicht nur für Terroristen gelten, sondern für alle.
MV: Ein Terroranschlag wird also weitreichende Folgen haben.
NN: Es muss geprüft werden, wer von einem Anschlag profitiert.
MV: Beängstigend ist das rasche Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus in der Gesellschaft. Wo wird das hinführen?
NN: Es ist auffällig, dass Burjaten und Tadschiken als Bettler dargestellt werden, die gierig und bereit sind, für ein paar Münzen Verbrechen zu begehen.
MV: Wohin wird die Legalisierung von Folter und Todesstrafe führen? Oppositionelle Publikationen haben bereits festgestellt, dass auf der Liste des so genannten Rosfinmonitoring (Föderaler Finanzüberwachungsdienst der Russischen Föderation) viele Oppositionelle stehen, Menschen, die gegen Putin sind, gegen den Krieg. Die Folter kann gegen Oppositionelle legalisiert werden, weil sie in der Regel auf den Listen der Terroristen und Extremisten stehen.
NN: Sie versuchen, alle nationalen Minderheiten als Kriminelle darzustellen, die schon beim Erhalt von wenig Geld Gräueltaten begehen.
MV: Wir Vertreter*innen der indigenen Völker haben gegen den wachsenden Fremdenhass einen gemeinsamen Brief geschrieben. In gewisser Weise ähnelt der Terroranschlag der Burjatophobie als Folge der Kriegsverbrechen in Butcha (Ukraine). Damals war die Rede von Horden ethnischer Burjaten. Obwohl es sich um das Pskower Fallschirmjäger der 76. Division aus Pskow handelte. Das wird von allen Quellen bestätigt … Außerdem wurden etliche Pskower Fallschirmjäger gefangen genommen, sie gestanden es. Auf dem Video waren nicht-asiatische, nicht-burjatische Gesichter zu sehen. Natürlich konnte ich nicht anders, als Parallelen zu diesem Ereignis zu ziehen: Damals wurden alle Burjaten schuldig, und jetzt sind alle Tadschiken schuldig.
NN: Inwieweit strahlt die Fremdenfeindlichkeit auch in die Minderheitengemeinschaften hinein?
MV: Es ist eine traurige Tatsache. Im September 2023 habe ich auf der „Dekolonialen Konferenz“ das Thema aufgeworfen, dass Fremdenfeindlichkeit und Migrantenfeindlichkeit nicht nur für Vertreter*innen der ethnischen Mehrheit in Russland charakteristisch sind. Auch wir selbst, die Vertreter*innen der indigenen Völker, können davon geprägt sein. Ich denke, dass auch die Islamophobie eine große Rolle spielt.
NN: Migrantenfeindlichkeit, ein gefährliches Gift?
MV: Die nächste Welle der Fremdenfeindlichkeit wird keinen Unterschied machen, ob man Muslim oder Nicht-Muslim ist. Erinnern wir uns an die Bombenanschläge in Moskau in den 1990er Jahren. Meine Tante, die unmittelbar nach den Terroranschlägen nach Moskau kam, beschrieb es so: „Wir lebten in Moskau wie in den Zeiten der Rassentrennung in den USA oder in Südafrika während der Apartheid. Die „russische Rassentrennung“ betraf nicht nur Burjaten, sondern alle nicht-russischen Völker, ethnische Minderheiten unterschiedslos.“ Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass es dieses Mal anders aussehen wird.
NN: Die multiethnische Konsolidierung ist in unserer Gesellschaft noch nicht populär. Daher kann es passieren, dass buddhistische Burjaten die Muslime nicht mögen, aber auch das Gegenteil ist möglich.
MV: Sind Pogrome zu befürchten?
NN: In der Tat kann es zu Pogromen kommen (ich scheue mich nicht, dieses Wort auszusprechen) gegen Menschen mit asiatischem oder nahöstlichem Aussehen. Während des 2. Tschetschenienkriegs wurden auch Burjaten ermordet, wenn auch es schien, dass sich der ganze Hass gegen Menschen mit kaukasischem Aussehen richtete. Jetzt erwarten wir ihn in größerem Ausmaß als früher, weil die Gesellschaft immer mehr degeneriert ist und sich an die diktatorischen Methoden unseres Regimes gewöhnt hat. Und Menschen haben immer mehr Angst vor gewaltsamen Bestrafungen für jede abweichende Meinung. Bestraft werden auch jene, die sich für die Opfer dieser fremdenfeindlichen Haltungen einsetzen, seien sie nun Russen, Europäer.
MV: Hass macht blind.
NN: Warum erkennen wir nicht die guten Eigenschaften an, die der Mentalität der Tadschiken innewohnen? Ihren Fleiß? Warum erkennen wir nicht ihre Bescheidenheit und die Tatsache an, dass sie unsere Wirtschaft unterstützen? Warum wird dies vergessen und nur einzelne Verbrechen aus ihrem Umfeld als ethnische Verbrechen bezeichnet?
MV: In der Tat werden die positiven Aspekte der Anwesenheit von Migranten in Russland nicht erwähnt. Ich fühle eine gewisse Solidarität mit den Wanderarbeitern, weil ich selbst eine war. Offiziellen Statistiken zufolge sind ein Drittel der US-Landarbeiter Migranten. Amerika liegt bei der Zahl der Migranten an erster Stelle, Russland an zweiter Stelle, eine ähnliche Situation.
NN: Trotz Ablehnung werden die Migranten aber gebraucht.
MV: Ich bin sicher, dass ohne Tadschiken und andere Arbeiter aus Zentralasien viele Industrien in Russland nicht funktionieren könnten. Wir müssen begreifen, dass wir ihnen viel zu verdanken haben.
NN: Das Problem ist, dass wir nicht zu schätzen wissen, was uns billig gegeben wird. In Russland werden sie für ihre Arbeit wenig bezahlt und deshalb werden sie verachtet: Sie arbeiten für ein paar Groschen, sind also Menschen zweiter Klasse, fast Sklaven. Perverse Logik.
* * *
Ein Nachtrag zum Gespräch
Nadezhda Nizovkina erwähnte, dass in Russland nach dem Terroranschlag wieder über die Einführung der Todesstrafe gesprochen wird.
Laut „Novaya Gazeta. Europa“ (2. April 2024) wurden 2024 mehr als 14.000 Personen im Register der „Terroristen und Extremisten“ aufgelistet. Sie werden beschuldigt, die Armee diskreditiert oder Terroranschläge vorbereitet zu haben.
Unter den „Terroristen und Extremisten“ befinden sich 52 Minderjährige. Der jüngste von ihnen ist ein 14-Jähriger.
Der Föderale Finanzüberwachungsdienst der Russischen Föderation (Rosfinmonitoring) hat die Liste der „Terroristen und Extremisten“ 2001 erstellt. Die Aufnahme in das Register erfolgt auf Beschluss der Ermittlungs- oder Justizbehörden.
Berichten zufolge ist es schwierig, aus dem Register gestrichen zu werden, selbst wenn ein Strafregistereintrag getilgt wurde. Außerdem ist es fast unmöglich, die Registrierung als „Terroristen und Extremisten“ anzufechten.
Als Beispiel möchte ich die Bewegung „Ich/Wir Sergej Furgal“ anführen. Sie wurde zur Unterstützung des ehemaligen Gouverneurs der Region Chabarowsk gegründet, der 2019 aus dem Amt entfernt wurde. Tausende Menschen sind spontan auf die Straße gegangen, um für ihren Gouverneur zu protestieren, den sie gewählt (!) hatten. Das im modernen Russland ein seltener Fall. Die Bewegung ist nirgendwo registriert.
Am 7. Februar 2024 erklärte das Gericht in Chabarowsk die Bewegung „Ich/Wir Sergej Furgal“ für extremistisch und verbot sie.
Gleich nach dem Terroranschlag in Crokus werden gegen Migranten Razzien durchgeführt.
So wurden beispielsweise in einem Wohnheim von der Bereitschaftspolizei Türen und Fenster eingeschlagen. 60 Personen wurden auf die Polizeiwache gebracht, den meisten von ihnen droht die Abschiebung.
Es wurde auch bekannt, dass in der Region Chabarowsk Nationalisten ein Migrantenwohnheim umstellten. Sie forderten, „Nicht-Russen“ zu bestrafen, die angeblich versucht hatten, ein Kind zu entführen.
Zwei Fälle von vielen.
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