16-01-2022
Äthiopien: Biden telefoniert mit Abiy – Teilamnestie gefolgt von Bombardements – Hungerkatastrophe droht – Derweil Angriffe auf den WHO-Chef aus Addis Abeba
(c) World Food Program
Von Jan Diedrichsen
US-Präsident Joe Biden hat am Montag dieser Woche mit Abiy Ahmed Ali, dem Präsidenten Äthiopiens, telefoniert. Biden lobte die Freilassung mehrerer politischer Gefangener, und die beiden erörterten Möglichkeiten eines Waffenstillstands, die Dringlichkeit der Verbesserung der humanitären Lage in Äthiopien sowie die Notwendigkeit, Hilfslieferungen an die gesamte Bevölkerung – unabhängig von der Ethnie – zu verteilen, so das Weiße Haus in einer Erklärung.
Noch am Tag des Telefonats, wurden bei einem Luftangriff in der Stadt Mai Tsebri in Äthiopiens nördlicher Region Tigray mindestens 19 Menschen, überwiegend Frauen, getötet und Dutzende verletzt. Dieser Angriff erfolgte nur wenige Tage nach einem Luftangriff in einem Flüchtlingslager in Tigray, bei dem 56 Menschen getötet und 30 verletzt wurden, darunter auch Kinder.
VOICES berichtet
Die äthiopische Regierung hatte zuvor eine Amnestie für einige prominente politische Gefangene des Landes angekündigt, darunter der Oppositionelle Jawar Mohammed und hochrangige Funktionäre der Tigray-Partei. Premierminister Abiy sprach von „einer Versöhnung zum orthodoxen Weihnachten“. Der staatliche Rundfunksender nannte mehrere hochrangige Funktionäre der regierenden Tigray-Partei Tigray People’s Liberation Front, denen Amnestie gewährt wurde, und die bald freigelassen werden sollen. Dazu gehören Sebhat Nega, Kidusan Nega, Abay Woldu, Abadi Zemu, Mulu Gebregziabher und Kiros Hagos. Sie wurden Ende 2020 verhaftet.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden in dem Krieg, der im November 2020 zwischen dem äthiopischen Militär und den Tigray-Kräften begann, Zehntausende von Menschen getötet. Mehrere Millionen sind vertrieben worden.
Es ist wichtig festzuhalten, dass allen Konfliktparteien schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Den staatlichen Truppen, den Rebellen aus Tigray, der eritreischen Soldateska und den amharischen Milizen.
VOICES berichtet
Äthiopien: „Wenn aus Opfern Täter werden“
Ein Nullsummenspiel der Verbrechen und eine Zuordnung nach dem Motto „Gut und Böse“– wird diesen komplexen kriegerischen Auseinandersetzungen nicht gerecht. Wenngleich der staatlichen Macht eine besondere (völkerrechtliche) Verantwortung zukommt. Eine Konstante in diesem verworrenen Konflikt, mit einer langen Geschichte des Hasses und des Misstrauens zwischen den verschiedenen Volksgruppen, ist jedoch erprobt und sicher: Leiden tut immer die Zivilbevölkerung. Eine internationale Untersuchung und Bestrafung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss nach Beendigung des Konflikts unverzüglich begonnen werden.
Die Versorgungslage in der Region Tigray spitzt sich zu. Die Weltgesundheitsbehörde – WHO – warnt mit dramatischen Worten. Letzte Woche hat der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, die äthiopischen Behörden wegen der humanitären Krise in Tigray angegriffen und erklärt, dass die WHO seit Juli keine medizinischen Hilfsgüter mehr in die Region schicken durfte. Es sei „furchtbar und unvorstellbar“, dass „eine Regierung ihrem eigenen Volk mehr als ein Jahr lang Lebensmittel und Medikamente verweigert“, erklärte er.
Das Außenministerium in Adis Abeba reagierte wütend und warf Tedros, der aus Tigray stammt, vor, Fehlinformationen zu verbreiten und den „Ruf, die Unabhängigkeit und die Glaubwürdigkeit“ der WHO zu gefährden. Tedros Adhanom Ghebreyesus verteidigt sich und hat dabei die Rückendeckung der EU und der USA, die ihn für eine weitere fünfjährige Amtszeit vorgeschlagen haben: „Natürlich komme ich aus dieser Region und aus dem nördlichen Teil Äthiopiens. Aber ich sage dies ohne jede Voreingenommenheit.“
Es wiegt der Vorwurf schwer, dass die Regierung in Addis Abeba ganz gezielt eine Hungerblockade durchführt und das Leid und den Tod von Millionen Menschen billigend in Kauf nimmt. Die Region Tigray im Norden Äthiopiens steht nach Angaben der UNO am Rande einer humanitären Katastrophe, da die Kämpfe eskalieren und die Vorräte an lebenswichtigen Nahrungsmitteln unter anderem für unterernährte Kinder zur Neige gehen.
Das Welternährungsprogramm (WFP) teilte am Freitag mit, dass es in der kommenden Woche seine letzten Vorräte an Getreide, Hülsenfrüchten und Öl an die Region Tigray verteilen werde, in der schätzungsweise mehr als fünf Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe benötigen. Seit Mitte Dezember sind keine Konvois mehr in Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, angekommen. Die Vorräte für die Behandlung unterernährter Kinder und Frauen seien erschöpft, so die Agentur in einer Erklärung. Auch der Treibstoff für die Auslieferung der letzten lebenswichtigen Nahrungsmittel gehe zur Neige, hieß es. In der Erklärung äußert man sich zunehmend besorgt über die Hungersnöte in den benachbarten Regionen Amhara und Afar, wo mehr als 4 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein sollen.
„Wir müssen jetzt entscheiden, wer hungern muss, um zu verhindern, dass andere verhungern“, sagte Michael Dunford, der Regionaldirektor des WFP für Ostafrika. „Wir brauchen von allen Konfliktparteien sofortige Garantien für sichere und geschützte humanitäre Korridore über alle Routen durch Nordäthiopien. Die humanitären Hilfsgüter fließen einfach nicht in dem erforderlichen Tempo und Umfang“, sagte er. „Der Mangel an Nahrungsmitteln und Treibstoff bedeutet, dass wir bei der letzten Verteilung in Tigray nur 20% der Menschen erreichen konnten, die wir hätten erreichen müssen. Wir befinden uns am Rande einer humanitären Katastrophe“.
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