100 Jahre des Totschweigens

Das Militär von El Salvador ging 1932 mit exzessiver Gewalt gegen die Urbevölkerung vor.

Von Wolfgang Mayr

1932 kontrollierten eine wenige kastilische Familienclans 90 Prozent des Landes. Angepflanzt wurde ausschließlich Kaffee. Die indigenen Kleinbauern verloren Grund und Boden, ihre Selbstversorgung wurde gezielt zerstört. Sie waren gezwungen, als fast Sklavenarbeiter auf den Plantagen der Oligarchen zu arbeiten. Die Kaffee-Barone plünderten das Land, in Kooperation mit US-amerikanischen Unternehmen.

Tausende indigene Landarbeiter und die Kommunistische Partei wagten nach ständigen Diskriminierungen und rücksichtsloser Ausbeutung 1932 den Aufstand, gegen die Elite in San Salvador. Der bewaffnete Arm der weißen Elite, die Armee, schlug den Aufstand in drei Tagen erbarmungslos nieder. 30.000 Nahuat-Pipil werden ermordet. 

Die Armee wütete in den Landgemeinden der Nahuat-Pipil. Die Gewalt nach der Niederschlagung des Aufstandes waren entgrenzt. Alle Männer in den Aufstandsgebiete über 18 Jahren werden hingerichtet, die meisten Mädchen und Frauen vergewaltigt, ihre Kinder abgeschlachtet. 

Die grenzenlose Wut der Elite endet aber nicht mit der Massen-Schlächterei, mit der „La Matanza“. Das Regime verbietet das Tragen traditioneller Kleidung, das Sprechen des Nahuat wird verboten. Die Ureinwohner von San Salvador verstummen.

Verschwundenes Volk

Damit verschwanden die Angehörigen der Ureinwohner-Völker von der Bildfläche. Offiziell gibt es seit dem Genozid von 1932 keine autochthonen Völker mehr in El Salvador.

Sie tauchten ab und unter. In die Masse des Landproletariats, der Landarbeiter, der Landlosen, sie zogen sich zurück in ihre kleinen Weiler und Dörfer um den Cierro El Pital. Die Münchner Journalistin Hella Schlumberger kam 1983 in ihrem Buch „Kreuzweg Mittelamerika“ zum Schluss, dass im Bürgerkrieg in El Salvador (1980 bis 1991) indigene Guerrilleros in der FMLN eine nicht unbedeutende Rolle spielten. Nicht von ungefähr standen ihre Bauernhöfe und Dörfer im Visier des Militärs und rechtsradikaler Todesschwadrone. Vorbild Guatamala. Mehr als 70.000 Menschen kamen ums Leben, mehr als eine Million Menschen flohen aus dem Land, das Land war verwüstet. 

Das salvadorianische Militär führte mit Unterstützung der USA einen äußerst schmutzigen Krieg gegen die Landbevölkerung. Wie schon 1932. Die genozidale „Politik“ der salvadorianischen Elite gegen die Ureinwohner blieb nicht folgenlos. Sie passten sich an, trugen nicht mehr die farbenfrohe traditionelle Kleidung. Trotzdem waren sie für ihre Feinde erkennbar, klein, dunkel, bitterarm. Der Staat verfolgte eine krasse Politik der Diskriminierung.

Bei der letzten Volkszählung gaben weniger als 100 Personen Nahuat als Muttersprache an. Nur mehr in den entlegenen Gemeinden erinnern sich alte Menschen an das Nahuat, das jahrzehntelang Sprachenverbot sorgte dafür, dass an die Stelle des Nahuat das Kastilische trat. Wird diese doch faschistische Politik der Entnationalisierung und Assimilierung fortgesetzt, wäre El Salvador nach Uruguay das zweite amerikanische Land, in dem keine indigene Sprache mehr gesprochen wird.

Im Untergrund überlebten Reste des Glaubens und der Sprache. Dank des touristischen Interesses erlebten die traditionelle Kleidung und das Kunsthandwerk der Nahuat-Pipil eine Renaissance, wie auch das traditionelle Essen, die Naturheilkunde und die rituellen Maskentänze. Die heutige Volkskultur der Nahuat-Pipil ist ein Mix aus kolonial-spanische Importen und traditionellem Eigenbau.

Neustart nach dem Bürgerkrieg?

Nach dem Bürgerkrieg und an der angestrebten schwierigen Aussöhnung stellte die Ex-Guerrilla FMLN ein Jahrzehnt lang die stärkste Parlamentsfraktion. Aber wie viele andere Linke in Lateinamerika scheiterte die FMLN, vergaß oder brach die eigenen Versprechen. Die Linke dachte gar nicht daran, das Land sozial zu reformieren, zu demokratisieren. Die Revolutionäre scheiterten an den Um- und Zuständen, wie ihre rechtsradikalen Vorgänger von der Arena auch.

Das Land versinkt in einer unglaublichen Gewaltorgie, Jugendbanden terrorisieren Städte und abgelegene Landstriche. Mehr als 70.000 Mitglieder sollen die Maras zählen, die Jugendbanden. „El Salvador ist heute eines der gefährlichsten Länder der Welt. Könnte die hohe Gewaltbereitschaft ein Resultat davon sein, dass man einer ganzen Gesellschaft die Wurzeln genommen hat?,“ fragt

Zu den fehlenden Wurzeln zähen Sprache und Kultur der Nahuat-Pipil. In ihrer Amtsperiode erkannte die Links-Regierung die Rechte der Nahuat-Pipil an. Geld dafür gab es aber keines. Es sind meist entwicklungspolitische Organisationen, die Nahuat-Initiativen unterstützen, wie die Aufarbeitung der verdrängten Geschichte und die Förderung des ethnischen Bewusstseins.

Inzwischen kümmert sich auch eine Organisation vor Ort darum, die ACISAM, einst zur Betreuung von Bürgerkriegsopfern gegründet. Mit ihren Kulturstammtischen durchbrachen die ACISAM- AktivistInnen das jahrelange Totschweigen des Massakers von 1932. Über diese Kulturstammtische vernetzten sich immer mehr indigene Aktivisten und Aktivistinnen.

Seit der Jahrtausendwende gibt es auch Schul- und Kindergartenprojekte zur Erhaltung der Nahuat-Pipil-Kultur. Beispielsweise in Nahuizalco, mit einem hohen Anteil an indigener Bevölkerung. Dort finden Festivals und Wochenend-Sprachkurse statt, ein Nahuat-Pipil-Museum wurde eröffnet. Wichtige Schritte für die Sicherung der ethnischen Existenz und trotzdem ein schwieriges und mühseliges Unterfangen. Viele Jugendliche schämen sich ihrer indigenen Wurzeln. Verleugnen sie deshalb.

Das Verleugnen ist eine nachvollziehbare Reaktion. Viele Nahuat-Pipil bestätigen Menschenrechtsorganisationen, dass sie weiterhin unter alltäglicher Herabsetzung leiden. Die meisten der Nahuat-Pipil sind bitter arm, ausgegrenzt, wohl die schlimmste Form der Diskriminierung. Die mittelamerikanische Gesellschaft ist eine brutale Klassengesellschaft, in der ein radikaler anti-indianischer Rassismus gepflegt wird. Der Platz der Indigenen, in der Regel ganz unten.

Kein Interesse an indigenen Rechte zeigte bisher der amtierende Präsident Nayib Bukele. In seinem verzweifelten Kampf gegen die Jugendbanden ließ er mehr als 50.000 mutmaßliche Bandenmitglieder verhaften. Den Ausnahmezustand begründet Bukele mit der Gefahr der organisierten Kriminalität, gleichzeitig nutzt er die Chance, gegen politische Gegner vorzugehen. Die Aussichten für die Nahuat-Pipil sind düster. 

Den Killergeist gegen die Nahuat-Pipil und Lenca hegt und pflegt die rechtsradikale Alianza Republicana Nacionalista ARENA. Sie gedenkt auch heute noch des „Retters des Vaterlandes“, Maximiliano Hernández Martínez. Der General war 1932 einer der „Architekten“ der Matanza, des Genozids. Die Armee und die weißen Großgrundbesitzer leisteten damals ganze Arbeit. Das allseits präsente Indigene sollte vernichtet werden, fast ist es ihnen gelungen. Doch wie in vielen anderen amerikanischen Staaten, die auch eine genozidale Politik betrieben, überlebten überraschend starke indigene Bevölkerungsgruppen die Ausrottung.

Es gibt sie doch!

Auch viele Ortsnamen zeugen noch von den Ursprüngen, wie „Ahuachapán“, „Chalchuapa“ oder „Texistepeque“. Überbleibsel einer uralten Kultur. Ob sie den Sturm der Vernichtung überleben wird?

Obwohl es keine statistischen Angaben über die Zahl der Indigenen in El Salvador gibt – die letzte Volkszählung, bei der Indigene gezählt wurden, fand 1930 statt – schätzte der salvadorianische Anthropologe Alejandro D. Marroquín 1975, dass sie etwa 10 Prozent der salvadorianischen Bevölkerung ausmachen. Laut dieser Schätzung würden heute bei einer Gesamtbevölkerung von etwas mehr als sieben Millionen Menschen die Nahuat-Pipil und ihre verwandten Völker schätzungsweise 700.000 Angehörige zählen.

Diesen Menschen wurde alles genommen, ihr Land, ein Großteil ihrer Kultur, ihre Sprache, ihre Autonomie und ihr Selbstwertgefühl. Sie sind „akkulturiert“, assimiliert, und aus diesem Grund werden sie übersehen, ignoriert und sind unsichtbar. Und doch gibt es sie, und mit ihrer wachsenden Zahl wächst auch ihre Armut.

Marroquín erkannte, dass die salvadorianischen Indigenen nicht durch die bekannten Merkmale wie eigene Sprache, Kleidung sowie Bräuche definiert werden können. Sie setzen sich aus den Nachkommen der ersten Völker zusammen, die durch die spanische Eroberung und die darauf folgende Ausbeutung, Elend und Unterdrückung völlig entwurzelt wurden. Die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Cultural Survival macht die kollektive Identität der salvadorianischen Indianer an zwei Merkmalen fest, sie sind Opfer von unglaublicher Ungerechtigkeit und erdrückender Ausbeutung aus. Das hält sie als ethnische Gruppe zusammen.

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