Heim zu den Seinen

In Erinnerung an Tilman Zülch, Mitbegründer und politischer Taktgeber der GfbV.

Die Gründer der GfbV Tilman Zülch, Klaus Guerke und Ines Köhler-Zülch 2019 bei der GfbV

Die Gründer der GfbV Tilman Zülch, Klaus Guerke und Ines Köhler-Zülch 2019 bei der GfbV

Von Wolfgang Mayr

In den letzten Jahren litt Tilman unter seiner eigenen Geschichte, der Geschichte der Vertreibung aus seiner ostpreußischen Heimat 1945. Er und Millionen anderer Ostdeutsche wurden von den polnischen und sowjetischen Kommunisten für den Zweiten Weltkrieg und für die NS-Kriegsverbrechen kollektiv bestraft. Jahrzehntelang kein Thema für das demokratische West-Deutschland, für die BRD.

Als Flüchtlingskind in Schleswig-Holstein beschimpften ihn die kühlen Norddeutschen als „Polackenkind“, hilfesuchend, arm, desorientiert. Das war nicht weniger prägend als die Vertreibung. 

In „seiner“ GfbV sammelte Tilman auch ehemalige ostpreußische Landsleute um sich, wie Martha Dambrowski, engagiert für die Anerkennung des Holocausts an den europäischen Sinti und Roma oder Renate Domnick, die Fachfrau für die Shoshoni, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Den Anstoß für die Gründung der GfbV war das Morden der nigerianischen Zentralregierung in Biafra, in Kooperation mit dem sozialdemokratisch regierten Großbritannien und der kommunistischen Sowjetunion. Mit dem Medizin-Studenten Klaus Guercke gründete der Student der Volkswirtschaft die „Aktion Biafrahilfe“, sie sorgten mit spektakulären Aktionen für Aufmerksamkeit für Völkermord, für Vertreibung und Rassismus. Aus der Aktion wurde die GfbV.

Ich wurde in den 1970er Jahren auf die GfbV aufmerksam. Nach der Besetzung des BIA in Washington 1972 durch protestierende Indianer:innen und von Wounded Knee 1973 durch das American Indian Movement kündigte die GfbV eine „Indianer“-Sondernummer der Zeitschrift „pogrom“ an. Briefeschreibend bat ich um dieses Heft und erhielt stattdessen eine pogrom-Ausgabe über den kurdischen Widerstand gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein.

Während meines Besuchs der Deutschen Journalistenschule in München 1982-1984 nahm ich an einer Jahreshauptversammlung der GfbV in Göttingen teil. Beeindruckend wie viele Vertriebene und Kriegsflüchtlinge, Kurd:innen, Armenier:innen, Südsudanes:innen und Biafraner:innen mit dabei waren, genauso Dissidenten aus dem damals noch kommunistischen Ostblock, Vertreter sprachlicher und nationaler Minderheiten aus der BRD. Einer davon war der „deutsche“ Däne Heinrich Schultz oder Tjan Zaotschnaja, Itelmenin aus Kamtschatka. Das erste Treffen war mühselig, erinnert sich Tjan, wegen ihrer fehlenden Deutschkenntnisse. „Dank seinem Interesse und seiner Unterstützung hat die deutsche Öffentlichkeit von Itelmenen und später von anderen Völkern Russlands erfahren,“ erzählt Tjan. Die GfbV, eine Art sicherer Hafen für Vertriebene, beeindruckend, wie Tilman und sein Team diesen Menschen eine Öffentlichkeit boten, „von denen niemand sprach“.

Gründet doch eine Südtiroler Sektion“

Es dauerte dann auch nicht lange, bis Tilman und Ines nach Bozen kamen, zu Gesprächen über die Gründung einer Südtiroler Sektion der GfbV. Wir, Thomas Benedikter und eine kleine Aktivist:innen-Gruppe, waren fasziniert, von Tilman, von Ines, die in die Menschenrechtsarbeit ihre wissenschaftliche Erkenntnisse mit einbrachte.

Tilman überzeugte uns von seinem Menschenrechtsengagement für verfolgte Minderheiten, „auf keinem Auge blind“. Tilman interessierte sich für die Südtiroler Geschichte im italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus, vom „Wunder“ der erkämpften Autonomie. Erfahrungen, die doch auch in die politische Arbeit der GfbV einfließen sollten, ermunterte er uns zur Mitarbeit.

Fasziniert waren wie auch, wie Tilman und die GfbV durch Menschenrechtskampagnen, mit Publikationen und internationaler Medienarbeit den tabuisierten Genozid an den Sinti und Roma im Dritten Reich zum Thema machte. 1987/88 und 1990/91 engagierte er sich gegen die deutschen Firmen „Pilot Plant“ und „Karl Kolb„, die am Aufbau einer irakischen Giftgasindustrie beteiligt waren. 

Tilman knüpfte in den 1980er Jahren Kontakte zu den illegal agierenden Menschenrechtsorganisationen im Ostblock, in Estland, Lettland und Litauen, in Belarus und in der Ukraine. Ukrainische Wortmeldungen gegen die alles durchdringende Russifizierung der Sowjetpolitik waren im „pogrom“ zu lesen und genauso Stellungnahmen von Angehörigen der deutschen und ungarischen Minderheiten gegen die Politik der Entnationalisierung durch das stalinistische Ceausescu-Regime in Rumänien. 

Immer wieder griffen Tilman und seine Mitstreitenden auch die Folgen des von vielen Linken gern verdrängten Hitler-Stalin-Paktes für die osteuropäischen Nationen auf. Das Wüten der Nazis in Polen und in der Ukraine, das Wüten der Stalinisten im restlichen Osteuropa. 

„Auf keinem Auge blind“

„Auf keinem Auge blind“ war das Leitmotiv, auch Verbrechen von US-gestützten Diktaturen in Lateinamerika geißelte deshalb die GfbV, veröffentlichte Hilferufe der Maya aus dem Hochland von Guatemala, die von der Militärjunta gejagt, machte sich zum Sprachrohr für die Mapuche in Chile, die von der Militärdiktatur – unterm US-Schutzschirm – unterdrückt wurden.

Immer auf der Seite der Minderheiten, so auch im Krieg der angeblich linken Sandinisten in Nicaragua gegen die Miskitos an der Atlantikküste oder im „Bündnis“ mit den Nationalitäten in Äthiopien nach dem linken Militärputsch gegen Kaiser Haile Selassie.

Ende 1992 lieferte die GfbV in Zusammenarbeit mit Fadila Memisevic und ihren engagierten bosnischen Frauen die Namen von 25.000 muslimischen Genozidopfern und 1350 mutmaßlichen serbischen Tätern an die Bassiouni-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im Bosnien-Krieg. Tilman und die GfbV standen unmissverständlich auf der Seite der bosnischen Opfer, polemisierte gegen das westliche Waffenembargo, mit dem Bosnien die Selbstverteidigung genommen wurde.

Trotz seiner Solidarität mit Kroatien griff Tilman aber auch immer wieder die kroatische Staatsführung an, wegen ihrer Kriegsverbrechen in Bosnien, wegen der Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus Kroatien, wegen der gezielt betriebenen Rückbesinnung auf den Ustascha-Faschismus im Zweiten Weltkrieg.

Tilman war ein unbequemer Menschenrechtler. Er nervte gehörig, die eigene Bundesregierung, die „westliche Wertegemeinschaft“, die immer wieder im Bedarfsfall diese Werte verdrängte. So engagierte er sich mit Claus Biegert für das „indianische Amerika“, für die vielen sprachlichen und nationalen Minderheiten im westlichen Europa. 

Unmissverständlich stellt Tilman auch klar: „Deutsche Vergangenheitsbewältigung darf nicht dazu führen, andere historische Verbrechen wie die des Stalinismus und der Massenvertreibungen nach 1945 und nicht zuletzt die furchtbaren Gräuel der Kolonialmächte zu tabuisieren oder heutigen Genozid klein zu reden“. 

Eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur unterstützen Tilman in diesem Anliegen. Vor allem Günter Grass, Martin Walser, Rita Süssmuth, Freimut Duve, Simon Wiesenthal, Ralf Giordano, Christian Schwarz-Schilling und Ernst Tugendhat zählten dazu, wie auch der Friedensforscher Robert Jungk und der Philosoph Ernst Bloch.

Dieses Engagement nervte einen Teil der Linken um die Zeitschriften „konkret“ und „Junge Welt“, aber auch die TAZ schoss sich immer wieder gerne und untergriffig auf Tilman ein. Zu den Kritikern zählte der Ex-Konkret-Journalist Jürgen Elsässer, heute Herausgeber des rechtsradikalen Magazins „Compact“. Diese linke Szene versuchte „gewaltsam“ Tilman in ein völkisches Eck zu drücken. 

Viele Streitereien und Konflikte in der GfbV nahm ich kaum wahr, auch nicht die menschlichen Verwerfungen, die oft die Folge der Auseinandersetzungen waren. Offensichtlich sind auch Menschenrechtsorganisationen nicht davor gewappnet. Tilman hatte es aber nicht verdient, wie er 2017 „ausrangiert“ wurde. Ich war damals auch als Akteur mit dabei. Das bedauere ich sehr. 

Die 83-jährige Reise von Tilman endete am 17. März in einem Pflegeheim in Göttingen. Ich bin froh darüber, Tilman gemeinsam mit Feryad Omar, Jan Diedrichsen und Claus Biegert im Winter 2022 besucht zu haben. Inzwischen ist er heimgekehrt, zu den Seinen aus der Großfamilie, zu Ines, zu den frühen Mitstreitern wie Martha Dambrowski, Renate Domnick oder Clemens Ludwig. 

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